Der Horror von Charkiw Ein Ende des Sterbens ist nicht in Sicht

AP / tchs

17.7.2022

Ein Polizist (r) inspiziert ein Stück einer Rakete nach russischem Beschuss eines Wohnviertels in Charkiw.
Ein Polizist (r) inspiziert ein Stück einer Rakete nach russischem Beschuss eines Wohnviertels in Charkiw.
Bild: Evgeniy Maloletka/AP/dpa

Fast 5'000 Zivilpersonen sind in der Ukraine seit Beginn der russischen Invasion getötet worden – nach bestätigten Zahlen. Tatsächlich dürften es viele mehr sein. Ein schwer auszuhaltender Besuch in Charkiw.

Sie wollte gerade draussen die Katzen füttern, als der Beschuss losging. Es war Nachmittag in dem Wohnviertel, eine gute Zeit für Erledigungen. Aber nahe der Front in der Ukraine gibt es keine Alltagsroutinen mehr. In der zweitgrößten Stadt Charkiw unweit der russischen Grenze leben die Menschen täglich mit dem Grollen von Artillerieangriffen im Hintergrund und dem Lärm von Explosionen in ihrer Nähe.

Wie andere Bewohnerinnen und Bewohner hat auch Natalja Kolesnik notgedrungen gelernt, mit den Risiken zu leben. Dann wird sie an einem heissen Donnerstag in ihrem grasbewachsenen Hinterhof von einem Geschoss getroffen. Ihr Leichnam ist einer von dreien, die anschliessend auf der schmutzigen Erde liegen.

«Sie ist tot. Gib auf.»

Eines der Todesopfer ist bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Das zweite, in einem zerfetzten gelben Kleid und mit nur noch einem blauen Schuh, liegt neben einer zersplitterten Holzbank. Daneben steht eine blutgefleckte Snackbox mit Kirschen und Äpfeln. In einer Handtasche auf der Bank klingelt ein Handy.

Kolesniks Ehemann Viktor trifft unter Schock ein. Er will seine Frau nicht gehenlassen, streichelt ihren Kopf. «Papa, das war's», sagt sein Sohn Olexander, während die Rettungskräfte darauf warten, den Leichensack verschliessen zu können. «Sie ist tot. Gib auf.»

«Verstehst Du nicht?», fragt sein Vater. «Was verstehe ich nicht?», sagt der Sohn. «Das ist meine Mutter. Papa, bitte. Papa, bitte.»

In Charkiw ist der Krieg und das Sterben inzwischen trauriger Alltag.
In Charkiw ist der Krieg und das Sterben inzwischen trauriger Alltag.
Bild: Ukrinform/dpa

Auf Knien umarmt Viktor seine tote Frau und presst sein Kinn an ihr Gesicht. Er nimmt ihre linke Hand, legt sie wieder ab und bedeckt sie mit seiner. Sein Sohn appelliert weiter an ihn, loszulassen. «Ich kann nicht weggehen», erwidert der Vater. «Du bist voller Blut. Die Leute müssen sie wegtragen», sagt der Sohn. Schliesslich verschliesst Viktor Kolesnik selbst den Leichensack seiner Frau, und die Sanitäter übernehmen.

Nachbarn verfolgen die Szene von Rand eines Ackers in der Nähe, die Behörden nehmen ihre routinemässige Suche nach Granatsplittern auf. Viktor Kolesnik bleibt alleine und weinend auf einer Bank zurück.

«Warum schiessen sie hier? Hier ist nichts»

«Warum sind diese Menschen getötet worden? Schrecklich. Ich habe es satt», sagt der Nachbar Sergej Perschin. «Jede Nacht wachen wir zehn Mal auf und warten, wenn sie anfangen zu schiessen. Was tun diese Bastarde? Hier sind Wohngebäude. Warum schiessen sie hier? Hier ist nichts.»

Es war nur ein Tag in Charkiw, wo in 19 Wochen Krieg schon Hunderte Menschen getötet worden sind. Da Russland seine Truppen zusammenzieht, um weitere Gebiete im Osten der Ukraine zu erobern, ist kein Ende des Sterbens in Sicht. Bis zum 10. Juli bestätigten die Vereinten Nationen mindestens 4889 getötete Zivilisten im ganzen Land seit Beginn der russischen Invasion. Die wahre Opferzahl liegt wohl viel höher.

AP / tchs