Sturm auf US-Kapitol «Eine Art Woodstock der wütenden Rechten»

Von Andrew Selsky/AP

25.1.2021

Der Sturm auf das Kapitol in Washington hat bisher getrennte rechte Gruppierungen zusammengebracht – mit noch nicht absehbaren Folgen. Experten warnen vor weiterer Gewalt und einer Radikalisierung. 

Neofaschisten, Verschwörungstheoretiker, Rassisten und andere Extremisten: Im aggressiven Mob, der am 6. Januar das Kapitol angriff, fanden sich Anhänger aller möglichen Schattierungen der äussersten Rechten in den USA.

Der Sturm auf das Herz der Politik hat nach Ansicht von Experten extreme Gruppierungen zusammengebracht, die zuvor nicht verknüpft waren – und damit den Boden für mögliche weitere Gewaltaktionen bereitet. «Die Ereignisse selbst, und die Teilnahme daran, haben radikalisierende Wirkung», sagt der Terrorexperte Brian Michael Jenkins, Berater des politischen Thinktanks Rand Corporation. «Und sie haben auch mitreissende Wirkung. Die Schlacht vom Capitol Hill gehört jetzt zur Mythologie.»

Das Klima für den Angriff habe sich während der ganzen Zeit der Regierung von Präsident Donald Trump zusammengebraut, meint die Juraprofessorin Mary McCord, einst ranghohe Mitarbeiterin im Verteidigungsministerium. Die rechtsextremen Demos unter dem Motto «Unite the Right» 2017 in Charlotteville, aggressive Proteste gegen Corona-Regeln oder auch tödliche Schusswaffenattacken hasserfüllter Angreifer – «all das hat zu diesem Moment geführt», erklärt McCord.

Zahl der Hassgruppen nahm seit 2017 zu 

Nach Daten des Southern Poverty Law Center, das die Entwicklung des Extremismus in den USA beobachtet, hat die Zahl der Hassgruppen weisser Nationalisten seit 2017 um 55 Prozent zugenommen.

Zu jenen, die Anfang Januar zum Sturm auf das Kapitol zusammentrafen, gehörten Mitglieder der rechtsextremen Miliz «Oath Keepers», die ihre Anhänger gerne auch aus Ehemaligen oder sogar noch Aktiven der Sicherheitskräfte rekrutiert, ebenso wie Neofaschisten der Gruppe «Proud Boys» oder Anhänger der QAnon-Verschwörungstheorie und Rechte anderer Couleur.

«Der 6. Januar war eine Art Woodstock der wütenden Rechten», sagt Rand-Berater Jenkins mit Blick auf das legendäre Open-Air-Musikfestival von 1969, bei dem Hunderttausende auf Feldern nahe der Kleinstadt Bethel im US-Staat New York zusammengeströmt waren. Das bedeute für die Ereignisse von Washington: «Schon allein, dass diese Gruppierungen zusammenkamen, sich vermischten, diesen Ärger teilten, diese Wut zeigten – das wird Folgen haben.»



Viele Rechte fühlen sich von Trump verraten und verlassen

Zumindest zur Amtseinführung des neuen Präsidenten Joe Biden am 20. Januar blieben die befürchteten gewalttätigen Massenproteste quer durch die Vereinigten Staaten und in der Hauptstadt aus. Doch das könnte auch nur auf eine vorübergehende Demoralisierung der rechten Gruppierungen hindeuten, von denen sich nicht wenige mittlerweile von Trump verraten und verlassen fühlen.

Sie waren am 6. Januar nach Washington gekommen im Glauben an Trump und dessen falsche Beteuerungen, dass ihm der Wahlsieg gestohlen worden sei. Sie fühlten sich ermutigt von Trumps Tweets und den Aufrufen zu wilden Protesten. Doch als ihr Idol dann zurückrudern musste und auch der von Verschwörungstheoretikern erwartete Sieg über einen satanischen Klüngel, in dem sie auch führende Demokraten wähnten, ausblieb, machte sich Enttäuschung breit.

6. Januar 2021: Anhänger des bis 20. Januar 2021 amtierenden US-Präsidenten Donald Trump stürmen das Kapitol in Washington.
6. Januar 2021: Anhänger des bis 20. Januar 2021 amtierenden US-Präsidenten Donald Trump stürmen das Kapitol in Washington.
Bild: Keystone

Angst vor gewaltbereitem Kern

Frust und Wut übertragen sich auf Trumps Partei, die Republikaner, auch Grand Old Party (GOP) genannt. «Ich kann es kaum erwarten, bis die GOP komplett zusammenbricht», schreibt ein aufgebrachter Extremist im Messenger-Dienst Telegram. «Aus der Asche wird sich eine wahrhaft nationalistische Bewegung erheben.»

Die verschiedenen extremistischen Gruppen und enttäuschte verblendete Trump-Anhänger könnten sich nun in einer grösseren landesweiten Bewegung zusammenfinden, befürchtet der Extremismusexperte Jenkins. Denkbar sei aber auch, dass die Bewegung schrumpfe, zugleich aber ein besonders entschlossener und gewaltbereiter Kern zurückbleibe.

Doch unabhängig von der weiteren Entwicklung sei eine neue Stufe erreicht, meint Jenkins. «Angesichts der Ereignisse des letzten Jahres und vor allem angesichts dessen, was wir in den letzten zwei Monaten gesehen haben, hat uns in neues Terrain gebracht», erklärt er. «All das kann man nicht so einfach wieder in die Box zurückdrängen.»

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