Zwischen Hoffnung und Risiko UNO-Expertin: «Eine Million Menschen kehrt nach Syrien zurück»

Jenny Keller

10.10.2025

Zwischen Hoffnung und Zweifel: Syrerinnen und Syrer blicken in eine ungewisse Zukunft.
Zwischen Hoffnung und Zweifel: Syrerinnen und Syrer blicken in eine ungewisse Zukunft.
Leo Correa/AP/dpa

Vierzehn Jahre Krieg haben Syrien verwüstet. Trotzdem kehren über eine Million Menschen zurück, in ein Land voller Trümmer, aber auch voller Entschlossenheit. UNHCR-Sprecherin Céline Schmitt erzählt, warum diese Heimkehr viel Mut verlangt.

Jenny Keller

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Seit Baschar al-Assads Sturz sind über eine Million Syrerinnen und Syrer aus dem Ausland zurückgekehrt.
  • Viele Familien kommen trotz einem Drittel zerstörter Häuser und fehlender Jobs.
  • Die humanitäre Hilfe sinkt. Die Finanzierungslücke ist so gross wie seit Jahren nicht mehr.
  • Besonders Familien mit Kindern stehen vor Herausforderungen: fehlende Schulen, Dokumente, psychologische Belastungen.
  • Das UNHCR fordert Investitionen in Wohnen, Arbeit und Bildung, um Rückkehr nachhaltig zu machen.
  • Sprecherin Céline Schmitt: «Der Mut der Menschen gibt uns Hoffnung.»

Seit dem Sturz von Baschar al-Assad zieht es Hunderttausende Syrerinnen und Syrer in ihre Heimat zurück. Derzeit sind rund 13,4 Millionen Menschen vertrieben. 7,2 Millionen innerhalb des Landes und weitere 6,2 Millionen ins Ausland. Vor Beginn des Kriegs zählte Syrien rund 22 bis 23 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist also auf der Flucht.

Seit Anfang Dezember des Vorjahrs seien nun rund 1,8 Millionen Binnenvertriebene in ihre Herkunftsregionen heimgekehrt, teilte das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR mit. Hinzu kommen über eine Million Geflüchtete, die aus den Nachbarländern nach Syrien zurückgekehrt sind.

Menschen, die jahrelang im Libanon, in der Türkei, in Jordanien oder in Europa lebten, wagen den Schritt in von den Folgen des Bürgerkrieges gezeichnete, aber vergleichsweise sichere  Regionen und Städte – nach Damaskus, Aleppo, Homs oder Hama. «Diese Menschen kehren mit dem Willen zurück, in Syrien zu bleiben», sagt die in Damaskus lebende UNHCR-Sprecherin Céline Schmitt im Gespräch mit blue News.

Grosse Solidarität unter Angehörigen

Das UNHCR unterstützt und begleitet die Rückkehrenden an den Grenzübergängen der Nachbarländer nach Syrien. Viele reisen mit ihrem gesamten Hab und Gut. Nach 14 Jahren Krieg sind sie oft voller Hoffnung und Freude, ihre Angehörigen wiederzusehen.

«Ich habe viele rührende Ankünfte und Wiedervereinigungen erlebt. Busse treffen am Zielort ein, Familienmitglieder fallen sich nach Jahren der kriegsbedingten Trennung in die Arme. Diese Momente sind unglaublich emotional.», erzählt Céline Schmitt.

Dass die Menschen wieder in Syrien leben wollen, sei oft ein Akt von fast trotzigem Durchhaltewillen. «Ich habe einen über 100-jährigen Mann getroffen, der nach elf Jahren aus dem Libanon heimkehrte. Sein Haus in Homs war zerstört. Er schlief im Zelt auf seinem Land. Er war glücklich, endlich wieder zu Hause zu sein.», erzählt die UNHCR-Mitarbeiterin.

Der Alltag stellt Rückkehrende vor enorme Hürden. Ein Drittel aller Häuser in Syrien gilt als zerstört, viele Menschen müssen Trümmer räumen, kämpfen mit hohen Mieten und einer ungewissen wirtschaftlichen Zukunft.

Und trotzdem, sagt Céline Schmitt, «sehen wir eine unglaubliche Solidarität im Privaten. Selbst vertriebene Familien beherbergen zurückkehrende Freunde und Angehörige. Das hilft, belastet sie aber materiell zusätzlich.» Solidarität allein reiche nicht, um Rückkehr langfristig zu tragen.

Ohne Jobs kein Neuanfang

Die Rückkehrerinnen und Rückkehrer wissen um diese Schwierigkeiten und entscheiden sich trotzdem für den Neuanfang. Neben zerstörten Häusern und teuren Mieten fehlt vor allem ein tragfähiges Einkommen. «Die Menschen sagen uns klar: ‹Wir brauchen Jobs. Wir wollen nicht ewig auf humanitäre Hilfe angewiesen sein›», erzählt Céline Schmitt.

Das UNHCR zahlt besonders verletzlichen Rückkehrenden eine einmalige Bargeldhilfe von 600 US-Dollar pro Haushalt, meist für Miete, Kleidung oder Medizin. Zudem unterstützt die Organisation Reparaturen an leicht beschädigten Häusern und gewährt bis zu 1500 US-Dollar Zuschuss für Kleinstunternehmungen.

Viele Initiativen seien erfolgreich, berichtet die UNHCR-Sprecherin: «In Aleppo hat eine Frau mit einem kleinen Zuschuss ein Nähatelier eröffnet. Ihr Mann war kriegsversehrt, ein Sohn musste die Schule abbrechen. Jetzt verdient sie ihr eigenes Einkommen, die Kinder sind wieder eingeschult.»

Sinkende Unterstützung für den Wiederaufbau

Langfristige Investitionen in Wohnraum, Jobs und Infrastruktur seien aber zwingend notwendig, gerade jetzt, da internationale Geldflüsse versiegen. «Der Bedarf an humanitärer Hilfe ist riesig. Wir brauchen dringend mehr Unterstützung.», sagt Céline Schmitt.

Mehrere grosse Geberländer, darunter die USA und Grossbritannien, haben ihre Syrien-Budgets deutlich gekürzt. Von den für 2025 benötigten Mitteln ist erst rund ein Viertel gedeckt, so wenig wie seit Jahren nicht mehr. Das UNHCR spricht von der grössten Finanzierungskrise seiner Geschichte.

Hoffnung kommt aus der Region: Saudi-Arabien und Katar übernahmen jüngst syrische Schulden beim Weltbankfonds, um neue Kredite zu ermöglichen.

Kinder zwischen Neuanfang und Hürden

Ein Detail, das Schmitt auffällt: «In den Wochen vor Schulbeginn im September haben wir einen deutlichen Anstieg an Rückkehrenden gesehen. Familien wollten unbedingt, dass ihre Kinder das neue Schuljahr in Syrien beginnen.»

Auch hier ist der Neustart nicht einfach. Viele Schulen sind zerstört, fehlende Dokumente erschweren die Einschreibung der Kinder. «Die Behörden erlauben inzwischen eine vorläufige Aufnahme auch ohne Papiere, um Verzögerungen zu vermeiden», sagt Céline Schmitt.

Das UNHCR unterstützt Familien dabei, bei den Behörden fehlende Unterlagen zu beschaffen, von Geburtsurkunden bis zu Schulzeugnissen oder Eigentumsnachweisen. Ohne solche Dokumente bleibt der Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Eigentumsrechten oft blockiert.

Kinder, die im Ausland aufgewachsen sind und Syrien nur aus Erzählungen kennen, brauchen zusätzliche Unterstützung beim Ankommen. «Eltern berichten, dass ihre Kinder Nachhilfe in Arabisch brauchen, weil sie teils nach einem ganz anderen Lehrplan gelernt haben. Und sie müssen psychologisch begleitet werden. Sie lassen Freundinnen und Freunde zurück und betreten eine völlig neue Welt.»

Landesweit betreibt das UNHCR aktuell 71 Gemeinschaftszentren, die Rechtsberatung, psychosoziale Betreuung und Kinderschutz bieten. «Diese Arbeit ist zentral», sagt Schmitt. «Aber es braucht deutlich mehr Investitionen in Schulen, Personal und Ausstattung, damit Kinder wirklich ankommen können.»

Gewalt, Hunger, Wirtschaftskrise

Viele Rückkehrende erzählen, dass sie sich wieder «dort fühlen, wo sie hingehören», sagt Céline Schmitt. «Familien geniessen es, gemeinsam in ihren Häusern zu sitzen, nach Jahren der Flucht einen ruhigen Tag miteinander zu verbringen.»

Allerdings können längst nicht alle Vertriebenen zurückkehren. Neben zerstörten Infrastrukturen, Mangel an Arbeitsmöglichkeiten, bürokratischen Hürden oder einem neuen Leben, das viele Syrer*innen nach Jahren im Exil an einem anderen Ort etabliert haben, ist die fehlende Sicherheit für viele ein zu grosses Risiko.

Denn an vielen Fronten bleibt die Lage fragil. In Suweida eskalierten im September Kämpfe zwischen Beduinenstämmen und drusischen Gruppen. Auch rund um Damaskus kam es zu schweren Gefechten.

Keine Erinnerung an Leben ohne Krieg

Nach fast anderthalb Jahrzehnten Krieg sind unzählige Waffen im Umlauf. Viele ehemalige Kämpfer müssen sich in einem zivilen Leben zurechtfinden, das sie kaum kennen. Für die jüngere Generation ist ein Leben ohne Gewalt oft nur eine Erinnerung.

Gleichzeitig ringt die neue Übergangsregierung darum, staatliche Institutionen aufzubauen. Ob sie dabei alle Bevölkerungsgruppen einbezieht, bleibt zweifelhaft.

Hinzu kommt die wirtschaftliche Not: Der Wiederaufbau Syriens wird auf 250 bis 400 Milliarden US-Dollar geschätzt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist von Ernährungsunsicherheit betroffen, fast drei Millionen Menschen leiden akut unter Hunger. Das Land hat seit sechzig Jahren keine so schlechten klimatischen Bedingungen mehr erlebt wie 2025. Dürren haben rund drei Viertel der Weizenernte zerstört.

Hoffnung braucht Investition

Für das UNHCR ist bei all diesen Herausforderungen deshalb entscheidend, dass die Rückkehr nach Syrien freiwillig und gut informiert erfolgt. Céline Schmitt sagt, das Ziel des UNHCR sei es, Rückkehr nach Syrien zu ermöglichen, nicht zu erzwingen: «Der Wille ist gross, aber der Zeitpunkt hängt von Bedingungen in Syrien und im Ausland ab. Darum ist es wichtig, sowohl jene zu unterstützen, die nicht zurückkehren können oder wollen, als auch diejenigen, die es tun.»

Die Organisation hat dafür die Plattform «Syria is Home» geschaffen, die über Grenzverfahren, verfügbare Dienste und Dokumentenfragen informiert. Besonders verletzliche Familien werden bei der Organisation ihrer Heimkehr unterstützt, die meisten organisieren sie jedoch selbst. In Syrien setzt das UNHCR dann mit Reintegrationshilfe an.

Am Ende bleibt bei Céline Schmitt ein Bild hängen: «Der Mut der Menschen gibt uns Hoffnung. Ihre Resilienz ist beeindruckend. Nach Jahren des Krieges, der Flucht und eines Neuanfangs in einem fremden Land entscheiden sie sich, zurückzukehren, trotz aller Schwierigkeiten. Sie wollen zu Hause sein, Familien vereinen und beim Wiederaufbau helfen. Das inspiriert uns, alles zu tun, um sie dabei zu unterstützen.»

Céline Schmitt, Sprecherin des UNHCR in Syrien

Céline Schmitt

Céline Schmitt leitet das Team des UNHCR für Kommunikation und Partnerschaften.

Sie setzt sich dafür ein, dass Geflüchtete und Vertriebene menschenwürdig und nachhaltig in ihre Heimat zurückkehren können.

Syrische Regierung verkündet Waffenruhe im Drusen-Gebiet

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Beduinische Kämpfer am Samstag in den Strassen von Sweida, Syrien. Nach tagelangen Gefechten in den drusischen Gebieten hat Damaskus eine Waffenruhe verkündet und fordert alle Seiten auf, die Kämpfe einzustellen. Beduinen hatten zuvor eine Offensive gegen drusische Milizen gestartet. Die Drusen sind eine arabische Religionsgemeinschaft, die aus dem Islam hervorging, sich aber nicht als muslimisch versteht. Israel, das sich als Schutzmacht der Drusen sieht, griff militärisch ein; Hunderte Menschen kamen in den letzten Tagen ums Leben. 19.7.2025

19.07.2025