Ich und die Stasi – Teil 2Einen Ratgeber, wie man den Spitzeln entkommt, gab es nicht
Von Andreas Fischer
27.7.2021
Die Stasi ist seit drei Jahrzehnten Geschichte, die Geschichte lässt den Autor aber nicht los. Er will wissen, was die DDR-Geheimpolizei über ihn wusste und bekommt zunächst mehr Fragen als Antworten.
Von Andreas Fischer
27.07.2021, 06:52
27.07.2021, 13:53
Von Andreas Fischer
18 Monate können sich ganz schön hinziehen. So lange könnte es aber dauern, bis ich Einsicht in meine Stasi-Unterlagen bekomme: Vor ein paar Wochen habe ich aus einem Impuls heraus den entsprechenden Antrag gestellt. Mehr als 30 Jahre nach der Wende.
Bevor die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Stasi-Unterlagen-Archivs aber mit der Recherche beginnen, muss ich meine Identität bestätigen. Weil ich das im Stasi-Unterlagen-Archiv erledigen kann, verabrede ich mich gleich mit dem Leiter der Aussenstelle Leipzig.
Zur Person
zVg/BStU
Stefan Walter, Jahrgang 1982, studierte Geschichts- und Politikwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er setzte sich als Projektmanager der Geschichtswerkstatt Jena und Redakteur intensiv mit der Aufarbeitung von Stasi-Unterlagen auseinander. Seit 2017 arbeitet Walter in leitender Funktion beim Stasi-Unterlagen-Archiv, zunächst drei Jahre in Suhl, seit 2020 als Leiter der Aussenstelle Leipzig.
Ich habe eine Menge Fragen, und Stefan Walter hat hoffentlich die Antworten. Nach einer Stunde weiss ich viel, vor allem aber, dass meine Reise in die Vergangenheit alles andere als ein entspannter Ausflug wird. Ich fühle mich wie Herakles im Kampf gegen die Hydra. Mit jeder Antwort des Geschichtswissenschaftlers tauchen zwei neue Fragen auf. Das wird kompliziert.
Als ich meinen persönlichen Antrag gestellt hatte, überlegte ich: «Ist es nicht langsam genug mit der Stasi?» Diese Frage stelle ich auch Stefan Walter.
«Wann ist Geschichte noch aktuell? 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution kann man aus 40 Jahren DDR-Geschichte noch immer viel lernen. Auch aus dem, was die Staatssicherheit damals getan hat: Dinge, die teilweise typisch sind, für eine kommunistische oder sozialistische Geheimpolizei, die aber auch einige Eigenheiten aufweisen. Die Frage für mich ist also eher: Aus der Geschichte lernen – wie geht das, und wer hilft dabei?»
Worum geht es mir wirklich?
Ich bin nicht der Einzige, der aus der Geschichte lernen will. Noch immer werden allein in Leipzig jeden Monat Hunderte Anträge gestellt, erzählt Stefan Walter. Das Thema Stasi beschäftigt die Menschen, sie verfolgen es mit grosser Ernsthaftigkeit. Ihre Beweggründe? Die sind meinen nicht unähnlich. Viele treibt die Neugier an, die Menschen wollen erfahren, ob und welche Informationen über sie gesammelt wurden. Andere Anträge haben ernstere Hintergründe.
«Es gab Opfer, die im Gefängnis sassen und durch die Stasi berufliche oder familiäre Nachteile erlitten haben. Die wollen ihre Vergangenheit selbst aufarbeiten und herausfinden, was genau los war: Warum wurde ich damals von der Schule verwiesen? Warum durfte ich nicht studieren? Diese Menschen hoffen, in den Stasi-Unterlagen Hinweise zu finden.»
Aber warum warten die Menschen so lange, bis sie einen Antrag stellen? Und was bringt es ihnen nach drei Jahrzehnten noch? Die grosse Zeit der Spitzeljagd ist vorbei, die meisten IM, die Inoffiziellen Mitarbeiter, die heimlich ihre Nachbarn, Kollegen und Freunde aushorchten, sind längst enttarnt.
Worum geht es also wirklich?
Worum geht es mir wirklich?
«Man muss ganz klar sagen, dass sich die Aufarbeitung der 1990er-Jahre deutlich von der Aufarbeitung, die im Jahr 2021 betrieben wird, unterscheidet. Unmittelbar nach der Friedlichen Revolutionen hatte die Aufarbeitung eine ganz andere gesellschaftliche Relevanz, das war ja gelebte Geschichte auf der Strasse. Damals waren die Menschen in Sorge um ihre eigene Existenz und um untergehende Betriebe, sie hatten Angst vor der Arbeitslosigkeit. Und sie fragten sich, wer dafür verantwortlich ist: Wer war ‹Spitzel›? Was haben diese Leute – scheinbar oder tatsächlich – Verbrecherisches gemacht?
Ich denke, dass die offene Auseinandersetzung mit der Stasi damals zum gesellschaftlichen Frieden beitragen konnte, dazu, dass die Friedliche Revolution auch in den Nachwende-Jahren friedlich geblieben ist. Das konnte auch für die Einzelnen gelten, die sich im persönlichen Umfeld Klarheit verschafften. Wie dann damit umgegangen wurde, wenn zum Beispiel der Nachbar ein IM war, das ist eine andere Frage – und eine sehr persönliche Entscheidung. Bricht man den Kontakt ab? Will man ein klärendes Gespräch? Sucht man Versöhnung?»
Schlimme Spitzel und nicht ganz so schlimme
In den frühen 1990er-Jahren wurden beinahe täglich IM enttarnt: die ganz grossen, aber auch die kleineren. In meiner Erinnerung waren die Zeitungen voll von Enthüllungsartikeln. Oder täusche ich mich? Nein, sagt Stefan Walter.
«Es gab nicht nur in den überregionalen Medien entsprechende Berichte, sondern auch in den regionalen, in denen man sich mit dem eigenen näheren Umfeld beschäftigt hat. Das ist ein Umgang mit der Geschichte, der heute stark kritisiert wird: Dass man sich auf Personen konzentriert hat und gar nicht genau wusste, wie diese Spitzeltätigkeit im Einzelfall aussah. Das konnte man teilweise in den Anfangsjahren noch gar nicht richtig einschätzen, weil das Überblickswissen fehlte, wer denn nun ein schlimmer Stasi-IM war und wer nicht.»
Und wieder ein Herkules-Hydra-Moment: Was ist denn der Unterschied zwischen einem schlimmen Stasi-IM und einem nicht so schlimmen? Als Behördenleiter kann Stefan Walter diese Frage nicht beantworten, weil er in dieser Funktion lediglich das Stasi-Unterlagengesetz umsetzt. Also frage ich ihn als Historiker.
«Wenn ich als Historiker spreche, ist der Punkt, dass es auch bei der Stasi nicht nur Schwarz und Weiss gab, sondern viele Schattierungen und Grautöne. Es gab IMs, die waren zuerst Täter und haben für die Stasi gespitzelt und wurden dann zum Opfer. Oder umgekehrt. In vielen Biografien lässt sich nicht eindeutig sagen: Dieser Mensch war immer Täter und dieser andere Mensch war immer Opfer. Man muss genau hinschauen, um im Einzelfall zu wissen, wie man die Tätigkeit des IM bewerten kann.
Es gab eine ganze Bandbreite von Gründen, warum die Menschen IM geworden sind: von der ideologischen Überzeugung über Druck der Stasi bis hin zum Eigennutz. Die IMs haben teilweise Geld und Vergünstigungen bekommen. Dann gab es aber auch IMs, die nach einiger Zeit aussteigen wollten, und es auch geschafft haben. Gerade wenn die IMs gedroht haben, die Konspiration zu durchbrechen.»
Von einer «durchbrochenen Konspiration» höre ich zum ersten Mal. Was ist das eigentlich?
«Wenn man zum Beispiel den Familienmitgliedern oder in der Oppositionsgruppe erzählt: ‹Du, ich bin IM›, dann offenbart man, dass die Stasi dort überwacht, und man ist als IM nicht mehr verwendbar. Die De-Konspiration war ein Mittel, um den Fängen der Stasi zu entkommen.»
Ich stelle mir das extrem schwierig vor, weil man sicherlich niemanden kannte, der als IM bei der Stasi aussteigen konnte und mit Tipps und Tricks helfen konnte. Und an Ratgeberliteratur, wie man der Stasi entkommt, kann ich mich auch nicht erinnern. Stefan Walter bestätigt das.
«Es musste jeder selber seinen Weg finden und auch ins Risiko gehen: Man war im Land gefangen, die Stasi hätte jederzeit zugreifen und Rache nehmen können. Wenn man Familie und Kinder hatte, dann überlegte man sich vielleicht zweimal, ob man sie gefährdet.»
Bin ich Mitläufer und deswegen mitschuldig?
Als ich meinen persönlichen Antrag gestellt habe, war ich nicht sicher, ob meine DDR-Vergangenheit weit genug weg ist, ob ich mittlerweile abgeklärt genug bin, um verzeihen zu können, falls es etwas zu verzeihen gibt. Das weiss ich jetzt noch viel weniger. Und es wird nicht besser, je mehr ich darüber nachdenke und je länger ich mich mit Stefan Walter unterhalte.
«Die IM-Jagd der ersten Jahre hat nachgelassen, allein schon aus dem Grund, dass viele relevante Inoffizielle Mitarbeiter enttarnt worden sind. Ausserdem haben sich das gesellschaftliche Verständnis und die Befassung seitens der Geschichtswissenschaft weiterentwickelt. Wenn man heute über die DDR spricht, dann spricht man vom SED-Staat und nicht vom Stasi-Staat: Die Staatssicherheit war ein Instrument der Partei. Ein mächtiges, ja, und auch eines mit einer gewissen Eigenständigkeit. Aber letztlich war sie Befehlsempfängerin und der Partei untergeordnet.
Wenn man das im Hinterkopf hat, kommt man davon ab, sich zu sehr auf einzelne IMs zu konzentrieren, sondern lässt den Blick weiter schweifen, um gesellschaftliche Zusammenhänge begreifen zu können – und das zu sehen, was eine Diktatur zum Laufen bringt: nämlich die Anpassung vieler. Denn es sind immer nur wenige, die wirklich Widerstand leisten können und wollen.»
War ich vorher vor allem neugierig, zweifele ich spätestens jetzt an meinem Unterfangen. Ich selbst habe als Musterschüler und überzeugter Pionier «irgendwie mitgemacht», mein Vater sagte mir vor Kurzem, dass wir «alle Kinder des Systems» waren. Er selber hat eine Zeit lang von Berufs wegen ganz offiziell Berichte an die Stasi geliefert. Wie schuldig sind wir als Familie ohne Widerstand?
«Dass Ihr Vater dienstlichen Kontakt zur Stasi hatte, ist ein interessanter Aspekt. Die Stasi gab es in der DDR ganz offiziell, sie hat nicht nur im Verborgenen agiert. An den Dienststellen gab es Schilder, und manche Leute hatten regelmässig Termine, an denen man sich ausgetauscht hat. Das ist bekannt und gehörte zu den Mechanismen, mit denen die Stasi zeigte, dass sie präsent war.»
Mir fällt ein, dass der Chef der Stasi-Dienststelle meines Ortes in meiner Doppelhaussiedlung drei Eingänge weiter gewohnt hat. Sein Sohn René ging in die Parallelklasse, ich habe häufig mit ihm Fussball gespielt. Er konnte den Ball über den ganzen Bolzplatz kicken.
Jugend schützt vor Stasi nicht
In welchem Alter fing die Überwachung eigentlich an? Ab wann wurden die jungen Bürger «begleitet»? Welche Rolle spielten die Elternhäuser?
«Informationen über Kinder dürften in den Stasi-Unterlagen vor allem als ein Rechercheergebnis am Rande auftauchen, wenn die Eltern überwacht wurden. Aber dass auch Kinder durchaus von Interesse für die Stasi waren, merkt man allein daran, dass teilweise bereits Minderjährige IMs geworden sind. Ein sehr spezielles und brisantes Thema. Nur das junge Alter hat nicht vor der Stasi geschützt.»
Soll ich meinen Plan wirklich durchziehen? Will ich meine Unterlagen immer noch sehen? Nehme ich ihn Kauf, dass die glückliche Kindheit meiner Erinnerung in den Akten zu einer ganz anderen Erzählung wird?
«Die Aufarbeitung wird heute anders betrieben als Anfang der 90er-Jahre. Man muss nach gesellschaftlichen Faktoren fragen, nach Verantwortung, nach Anpassung und Mitläufertum, um zu verstehen, wie eine Diktatur 40 Jahre lang funktionieren konnte. Und dann geht es auch um Alltagsgeschichte: Es muss ja im Privaten kein schlechtes Leben gewesen sein, wenn man in einer Diktatur gelebt hat.
Natürlich war es immer ein eingeschränktes Leben, aber die Frage ist doch: Wie hat man diese Einschränkungen wahrgenommen? Manchen hat es gereicht, an die Ostsee zu fahren, für viele andere war es ein Problem, nicht nach Frankreich zu dürfen.
Aber es gab eben auch die Willkür. Manche Menschen waren keine grossen Oppositionellen, haben aber mal ein offenes Wort gewagt: Nicht alle hat die Stasi ins Visier genommen. Manche wurden rausgezogen, um ein Exempel zu statuieren.»
Zum Schluss sagt Stefan Walter noch: «Man kann den gesellschaftlichen Umgang nie nur allgemein betrachten, es wird immer persönlich.»
Nach drei Jahrzehnten kommt beim Autor Neugier auf und er stellt Ende Juni 2021 einen Antrag auf Einsicht in seine persönlichen Stasi-Akten. Er will endlich wissen, ob er für den DDR-Inlandgeheimdienst interessant genug war. Die Serie «Ich und die Stasi» wird in lockerer Folge und bei allfälligen Entwicklungen zum Antrag auf Akteneinsicht fortgesetzt. Dabei ist Geduld gefragt: Die Bearbeitung kann bis zu 18 Monate dauern.