Stichwahl in Türkei Erdogan steht nach Wahlsieg vor gewaltigen Aufgaben

dpa/dor

29.5.2023 - 05:08

Erdogan gewinnt Präsidentschaftswahl in Türkei

Erdogan gewinnt Präsidentschaftswahl in Türkei

Istanbul, 28.05.23: ERDOGAN GEWINNT PRÄSIDENTSCHAFTSWAHL IN TÜRKEI Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bleibt weitere fünf Jahre im Amt Der 69-Jährige entschied am Sonntag eine Stichwahl gegen Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu für sich WAHLBEHÖRDE NACH AUSZÄHLUNG: Erdogan erhielt 52,14 Prozent der Stimmen – Kilicdaroglu 47,86 Prozent Bereits am frühen Abend füllten seine Anhänger Strassen in türkischen Städten, schwenkten Fahnen und feierten den Wahlsieg Erdogan führt die Türkei seit 20 Jahren – Am Sonntagabend erklärte er, er werde «bis ans Grab» bei seinen Anhängern bleiben

29.05.2023

Nach 20 Jahren an der Macht wird Erdogan für weitere fünf Jahre im Amt gewählt. Er spricht von einem «Jahrhundert der Türkei». Doch das Land plagen viele Probleme.

29.5.2023 - 05:08

Nach dem Sieg bei der Präsidentenwahl in der Türkei steht Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan vor grossen Herausforderungen. Mit Spannung wird erwartet, wie sich der Ausgang der Wahl heute auf die Landeswährung Lira auswirken wird. Die Währung hat in den vergangenen zwei Jahren massiv an Wert verloren, die Inflation im Land liegt bei rund 44 Prozent.

Der 69 Jahre alte Erdogan hatte gestern die Stichwahl gegen Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu (74) für sich entschieden. Erdogan erhielt nach vorläufigen Ergebnissen der Wahlbehörde rund 52 Prozent der Stimmen, Kilicdaroglu rund 48 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei 85 Prozent.

Erdogan schlug nach seinem Wahlsieg in Ankara sowohl aggressive als auch versöhnliche Töne an. Er warf westlichen Medien Stimmungsmache vor und bezeichnete die Opposition als Terroristen. Er sagte aber auch: «Heute hat niemand verloren», alle 85 Millionen Einwohner der Türkei hätten gewonnen. Die Demokratie habe gesiegt.

Deutliche Mehrheit bei Wählern in Deutschland

In Deutschland stimmten nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu rund 50 Prozent der Wahlberechtigten ab. Wie auch bei der ersten Runde sprach sich eine deutliche Mehrheit von ihnen für Erdogan aus. Beim Stand von rund 95 Prozent der ausgezählten Wahlurnen aus Deutschland kam der Amtsinhaber bei dieser Gruppe auf 67,4 Prozent der Stimmen, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete. Der Wahlkampf galt insgesamt als unfair, unter anderem wegen der Medienübermacht der Regierung.

Erdogan führt die Türkei seit 20 Jahren. 2003 wurde er zunächst Ministerpräsident, 2014 Staatspräsident. Seit Einführung eines Präsidialsystems 2018 hat er so viel Macht wie nie zuvor. Befürchtet wird, dass er nach der Wahl noch autoritärer regieren wird. Die Türkei ist Nato-Mitglied, pflegt enge Beziehungen zu Russland ebenso zur Ukraine und ist Akteurin im syrischen Bürgerkrieg. Die Wahl wurde entsprechend auch international mit grosser Aufmerksamkeit verfolgt.

Wiederaufbau nach Erdbeben im Fokus

Im Oktober feiert die Türkei den 100. Jahrestag ihrer Republikgründung. Erdogan spricht deshalb von einem «Jahrhundert der Türkei». Er hat weitere Investitionen in die Rüstungsindustrie und die Infrastruktur versprochen. Eine seiner grössten Aufgaben wird der Wiederaufbau der vom Erdbeben zerstörten Regionen sein. Im Februar waren bei schweren Erdbeben in der Südosttürkei Zehntausende Menschen ums Leben gekommen.

Nach seinem Sieg warf Erdogan ausländischen Medien Stimmungsmache vor. Deutsche, französische und englische Zeitungen hätten versucht, ihn zu «stürzen», es aber nicht geschafft, sagte Erdogan am Sonntag vor einer jubelnden Menge, die sich vor dem Präsidialpalast in Ankara versammelt hatte. «Die schmutzigen Spielchen habt ihr gesehen», sagte er.

Erdogan sprach von einem Sieg der Demokratie, bei dem niemand verloren habe. Der Opposition warf er ein weiteres Mal Verbindungen zum Terrorismus vor, gegen den er nun verschärft vorgehen wolle. Er versprach weiter, die starke Inflation im Land zu senken. Ökonomen machen dafür seine unorthodoxe Wirtschaftspolitik verantwortlich.

Gratulationen für Erdogan aus aller Welt

Der deutsche Kanzler Olaf Scholz gratulierte Erdogan zum Wahlsieg und würdigte die Zusammenarbeit. «Deutschland und die Türkei sind enge Partner und Alliierte – auch gesellschaftlich und wirtschaftlich sind wir stark miteinander verbunden», schrieb der SPD-Politiker gestern Abend auf Twitter. «Nun wollen wir unsere gemeinsamen Themen mit frischem Elan vorantreiben.»

EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen schrieb, es sei sowohl für die EU als auch für die Türkei von strategischer Bedeutung, «diese Beziehungen zum Wohle unserer Völker voranzutreiben». US-Präsident Joe Biden schrieb auf Twitter, er gratuliere Erdogan zu seiner Wiederwahl. «Ich freue mich darauf, weiter als Nato-Bündnispartner in bilateralen Fragen und bei gemeinsamen globalen Herausforderungen zusammenzuarbeiten.»

Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beglückwünschte Erdogan. Als einer der ersten hatte Russlands Präsident Wladimir Putin dem türkischen Präsidenten gratuliert, noch vor Ende der Stimmauszählung. Erdogan sieht sich als Vermittler im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg schrieb auf Twitter: «Ich freue mich, unsere Arbeit zusammen fortzusetzen und den Nato-Gipfel im Juli vorzubereiten.» Die Türkei hatte den Beitritt Schwedens in die Nato bislang blockiert und Zugeständnisse in der Terrorismusbekämpfung gefordert. Beobachter gehen davon aus, dass das türkische Parlament, in dem Erdogans Allianz eine Mehrheit hat, den Beitritt noch vor dem Nato-Gipfel ratifiziert.

Abbruch des EU-Beitrittsprozesses mit der Türkei gefordert

Nach Erdogans Wiederwahl sprach sich der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, dafür aus, den EU-Beitrittsprozess mit der Türkei zu beenden. «Die letzten Jahre haben gezeigt, dass eine enge Partnerschaft wichtig ist, eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU allerdings niemand mehr will – weder die Türkei noch die EU», sagte der CSU-Politiker den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Montag). «Diesen Prozess müssen wir zu den Akten legen, weil er bessere Beziehungen mehr blockiert als unterstützt.»

Die Erwartungshaltung nach dem Wahlsieg Erdogans sei klar, sagte Weber. «Gerade beim Ziel eines Friedens zwischen der Ukraine und Russland, der Migrationspolitik, zur wirtschaftlichen Modernisierung und bei der Zypern-Frage brauchen wir die Zusammenarbeit. Erdogan sollte nun umgehend der Mitgliedschaft Schwedens in der Nato zustimmen.»

dpa/dor