Ende des Zweiten Weltkriegs «Wir sind nicht allein» – Deutschland feiert die Befreiung

dpa/tafi

8.5.2020

Lange sahen die Deutschen den 8. Mai 1945 als Tag der Niederlage. Doch 1985 stellte der damalige Bundespräsident von Weizsäcker klar: Es war ein Tag der Befreiung. Für Deutschland ist der 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges ungewöhnlich.

Deutschland gedenkt an diesem Freitag des Endes des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung vom Nationalsozialismus vor 75 Jahren. In Berlin, wo der Tag heute einmalig ein gesetzlicher Feiertag ist, würdigen die Spitzen der deutschen Verfassungsorgane den 8. Mai als Tag der Befreiung.

Am Ende wird es ein fast schon einsames Gedenken der fünf höchsten Repräsentanten des deutschen Staates. Deutschland müsse an diesem Tag allein gedenken, sagt Steinmeier später. «Aber: Wir sind nicht allein! Das ist die glückliche Botschaft des heutigen Tages!»



Um 12 Uhr fahren die gepanzerten Wagen vor der Neuen Wache am Boulevard Unter den Linden in Berlin vor. Die zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft ist weiträumig abgesperrt. Kein anderes Auto ist auf der sonst stark befahrenen Strasse unterwegs, kein Fussgänger ist zu sehen. 

«Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben»

Steinmeier betritt den Innenraum als Letzter. Ein kurzes Zunicken – mehr geht nicht in den Zeiten von Corona. Vor der Plastik «Mutter mit totem Sohn» von Käthe Kollwitz liegen bereits fünf Kränze. Die fünf Vertreter des Staates richten die schwarz-rot-goldenen Schleifen, verharren in Stille, der Trompeter Lorenz Jansky spielt «Der gute Kamerad».

Auf dem menschenleeren Platz davor steht das Rednerpult mit Bundesadler, an das Steinmeier schliesslich tritt – Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie die Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht mit Sicherheitsabstand zu seiner Linken und Rechten.

«Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Freunde in Europa, liebe Partner und Verbündete rund um die Welt» – so beginnt Steinmeier. Es schmerzt ihn sichtlich, dass die Angesprochenen so fern sind. «Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig», sagte Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985. Steinmeier wollte ihn bewusst mit jenen begehen, denen Deutschland das Wiedererlangen der Freiheit nach zwölf Jahren Diktatur, die Rückkehr in die Völkerfamilie, die Einbindung in Europa verdankt

Steinmeier knüpft bewusst an von Weizsäcker an, zitiert dessen Satz vom «Tag der Befreiung» und befindet, man müsse diesen heute «neu und anders lesen». «Damals war dieser Satz ein Meilenstein im Ringen mit unserer Vergangenheit. Heute aber muss er sich an unsere Zukunft richten. ‹Befreiung› ist nämlich niemals abgeschlossen, und sie ist nichts, was wir nur passiv erfahren, sondern sie fordert uns aktiv, jeden Tag aufs Neue.»

Der Blick in die Zukunft – darauf kommt es Steinmeier an. Sicher: Er bekennt sich zur deutschen «Verantwortung für millionenfachen Mord und millionenfaches Leid». Und er zieht daraus den Schluss: «Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben.» Aber schon bei den Gedenkveranstaltungen im Januar in Israel und Polen zur Befreiung des deutschen Konzentrationslagers Auschwitz hatte er deutlich gemacht, dass es gilt, aus der Vergangenheit die richtigen Lehren für die Zukunft zu ziehen.

Das stark beschädigte Berliner Reichstagsgebäude zum Kriegsende: Am 8. Mai jährt sich zum 75. Mal das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Befreiung vom Nationalsozialismus.
Das stark beschädigte Berliner Reichstagsgebäude zum Kriegsende: Am 8. Mai jährt sich zum 75. Mal das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Befreiung vom Nationalsozialismus.
Henry Griffin/AP/dpa

Staatsakt musste abgesagt werden

Ursprünglich hatte Steinmeier für den 8. Mai einen Staatsakt angeordnet, die höchste mögliche Form der Würdigung eines Ereignisses durch den Staat. Die Veranstaltung vor dem Reichstagsgebäude mit 1600 Gästen wurde jedoch wegen der Corona-Pandemie abgesagt. Auch Gedenkveranstaltungen in anderen Ländern mussten umgeplant werden. Einen Staatsakt am 8. Mai hat es bislang nur einmal gegeben, 1995 unter Bundespräsident Roman Herzog.

Zehn Jahre zuvor hatte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker den 8. Mai 1945 in einer auch international viel beachteten Rede im Bundestag als «das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte» eingeordnet und betont: «Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.»

Die Vertreter der deutschen Verfassungsorgane legten zum Tag der Befreiung Ehrenkränze nieder – mit Sicherheitsabstand.
Die Vertreter der deutschen Verfassungsorgane legten zum Tag der Befreiung Ehrenkränze nieder – mit Sicherheitsabstand.
DPA/Reuters Pool/Hannibal Hanschke

«Erinnern wichtiger denn je»

Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endete am 8. Mai 1945 der von Hitler-Deutschland entfesselte Krieg in Europa. Er kostete hier und in Asien – je nach Schätzung – zwischen 55 und mehr als 60 Millionen Menschen das Leben. Unter ihnen waren auch rund sechs Millionen europäische Juden, die die Nationalsozialisten in ihrem Rassenwahn ermordet haben.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) machte nun deutlich, dass Deutschlands Einbindung in Europa die richtige Antwort auf den Zweiten Weltkrieg und die NS-Diktatur gewesen sei. «Aus dem Kriegsende folgt die Verpflichtung für Europa», sagte er den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. Fünf Jahre und einen Tag nach der Befreiung habe der damalige französische Aussenminister Robert Schuman 1950 die Initiative für die Vereinigten Staaten von Europa ergriffen. «Das war und bleibt die richtige Antwort auf den Abgrund.»

FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg begrüsste, dass ein «würdiger Ersatz» für den Staatsakt gefunden worden sei. «Das Erinnern und Gedenken ist gerade in diesen Zeiten wichtiger denn je», sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. «Um unserer eigenen Identität und Verantwortung willen und als Signal an unsere Alliierten: Der Zusammenhalt unter Völkern ist stärker als Differenzen zwischen Regierungen.»

Gedenken in ganz Europa

Auch in anderen Staaten wird am 75. Jahrestag des Kriegsendes gedacht. So nahm in Paris der französische Staatspräsident Emmanuel Macron an der Seite hoher Militärs an einer Feier am Triumphbogen teil. Auch hier gab es kein Publikum.

In London will Queen Elizabeth II. am späten Abend (22 Uhr) eine Fernsehansprache halten – genau 75 Jahre nach der Ansprache ihres Vaters, König George VI., im Radio. Während des Zweiten Weltkriegs machte Elizabeth eine Ausbildung zur Lastwagenfahrerin und -mechanikerin in der Armee. Als Nazi-Deutschland kapitulierte, mischte sie sich unerkannt unter die Feiernden in London.

Die Red Arrows, die Kunstfliegerstaffel der britischen Luftwaffe Royal Air Force, überfliegen während der Feierlichkeiten anlässlich des Jahrestages zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Formation das London Eye am Ufer der Themse.
Die Red Arrows, die Kunstfliegerstaffel der britischen Luftwaffe Royal Air Force, überfliegen während der Feierlichkeiten anlässlich des Jahrestages zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Formation das London Eye am Ufer der Themse.
Marc Ward/PA Wire/dpa

In Moskau sind die Planungen ebenfalls der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen. Kremlchef Wladimir Putin wollte den Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland eigentlich mit Staats- und Regierungschefs aus aller Welt gross feiern. Die geplante Militärparade wurde jedoch verschoben. Die Sowjetunion zählte im Zweiten Weltkrieg 27 Millionen Tote – mehr als jedes andere Land.

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