Austritt ohne AbkommenEU-Kommission warnt vor Brexit-Desaster
Verena Schmitt-Roschmann und Christoph Meyer, dpa
20.7.2018
Die EU und Grossbritannien wollen ihre Scheidung möglichst glimpflich abwickeln. Daran werkeln sie auch schon seit mehr als einem Jahr. Und doch - darauf verlassen wollen sie sich nicht.
Achteinhalb Monate vor dem britischen EU-Austritt hat die EU-Kommission alle staatlichen Stellen und die Wirtschaft ermahnt, sich für einen möglichen harten Bruch ohne Vertrag zu wappnen. Dieses Szenario sei weiter möglich, erklärte die Brüsseler Behörde am Donnerstag. EU-Chefunterhändler Michel Barnier und sein neuer britischer Gesprächspartner Dominic Raab betonten aber bei ihrem ersten Treffen, weiter mit Volldampf einen Kompromiss zu suchen.
Beim Brexit sitzen beide in der Zwickmühle
Der EU-Austritt der Briten rückt immer näher und es ist immer noch nicht sicher, ob die Sache einigermassen glimpflich ausgeht. Und das liegt nicht nur am Londoner Regierungschaos.
Gibt es noch italienischen Mozzarella in Manchester? Können deutsche Autobauer stressfrei produzieren? Landen auch im April noch britische Flieger in Paris? Lauter wichtige Brexit-Fragen, die bei den Verhandlungen über den britischen EU-Austritt mit auf dem Tisch liegen.
Die britische Premierministerin Theresa May hat nun endlich ihre Pläne vorgelegt, wie ihr Land auf Dauer mit der Europäischen Union Handel treiben und zusammenarbeiten will. Allerdings ist nicht nur sie selbst damit tief in den politischen Schlamassel geschlittert. Sie bringt auch die EU aus diversen Gründen in die Zwickmühle. Am Freitag beraten die 27 bleibenden Staaten, wie sie damit umgehen. Es ist ein ausserordentlich heikles Unterfangen.
Was schlägt May der EU vor?
Vor zwei Wochen wagte sich die Premierministerin nach langem Zögern aus der Deckung und verpflichtete ihr Kabinett auf eine offizielle Brexit-Verhandlungslinie: Kern ist eine gemeinsame Freihandelszone für Waren mit der EU. Dafür will sich London weiter an europäische Produktstandards halten. Zusammen mit einem komplexen Zollabkommen soll dies Warenkontrollen an den Grenzen zur EU unnötig machen und der Wirtschaft Ärger und Wartezeit ersparen. Doch will Grossbritannien bei Dienstleistungen eigene Wege gehen und auch eigene Freihandelsabkommen mit Ländern wie den USA oder China schliessen. Zudem sollen EU-Bürger nicht mehr ohne Weiteres einwandern können.
Insgesamt bewegte sich May damit auf eine «weichere» Variante des Brexit zu - das sehen auch viele in Brüssel. Mays Vorschlag laufe auf «ein modernes Handelsabkommen» hinaus, sagt Guntram Wolff von der Denkfabrik Bruegel
Warum ist das ein Problem für die EU?
Ein Handelsabkommen bietet auch die EU - doch für viele klingt Mays Freihandelszone nach mehr: eine Art Binnenmarkt nur für Güter. Und das schliesst die EU bisher aus. Ihr Mantra lautet: Die vier Freiheiten des Binnenmarkt gibt es nur im Paket, nämlich den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und die Freiheit der Bürger, zu leben und zu arbeiten, wo sie wollen. Dass sich May nur den freien Warenverkehr herauspicken, aber die Freizügigkeit beenden will, widerspricht der bisherigen roten Linie der EU.
«Wenn die EU daran festhält, dann funktioniert das ganze May-Modell nicht», sagt Jürgen Matthes vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Er rät der EU, «das Dogma der vier Freiheiten» notfalls zu überdenken, allerdings nur, wenn London weitere Zugeständnisse macht. «Da muss noch mehr von britischer Seite kommen», sagt Matthes.
Gibt es dafür eine Chance?
Derzeit sieht es so gar nicht danach aus. Die Brexit-Hardliner im britischen Parlament haben diese Woche mit einer Reihe von Entscheidungen den Spielraum für May eingeschränkt und ihre für die EU bereits schwierigen Vorschläge noch schwieriger gemacht. May liess es geschehen, weil sie um ihre politische Existenz bangt. Aus Zorn über ihren Plan sind Brexit-Minister David Davis und Aussenminister Boris Johnson zurückgetreten, und vor allem Johnson macht nun kräftig Stimmung gegen May. Die Befürworter einer engen Bindung an die EU sind ihrerseits unzufrieden. Mays Position dazwischen ist extrem wackelig. So muss sich die EU entscheiden: Versetzt sie der Regierungschefin den Stoss in den politischen Abgrund? Oder überdenkt sie die eigenen roten Linien?
Wie befreit sich die EU aus dem Dilemma?
Erst einmal gar nicht. EU-Diplomaten sagten vor einem Ministertreffen am Freitag, es sei ja schön, dass Grossbritannien nun endlich einen Vorschlag habe und man werde ihn sich nun erläutern lassen. Aber Position beziehen werde man nicht. Denn in den Brexit-Verhandlungen gehe es vorerst um den Austrittsvertrag - nicht um die langfristigen Beziehungen, die die EU erst während einer knapp zweijährigen Übergangsphase nach dem Brexit vertraglich regeln will. Vorher will die EU nur eine luftige politische Erklärung - May hingegen braucht handfeste Zukunftsaussichten schon vor der Trennung.
Geht das gut aus?
Das Risiko eines ungeordneten Brexits ohne Vertrag bestehe fort, sagt Bruegel-Chef Wolff. Die EU-Kommission hat gerade alle Betroffenen gemahnt, sich besser auf ein solches «No-Deal-Szenario» ohne Übergangsphase vorzubereiten, auch genannt «Sturz in den Abgrund». Doch wollen beide Seiten Chaos für Bürger und Wirtschaft unbedingt vermeiden. Eine Einigung im vorgegebenen Zeitrahmen bis Oktober sei bei gutem Willen auch durchaus möglich, sagen Diplomaten.
Könnte es ein zweites Referendum geben?
Kommt es wirklich zum Kompromiss mit Brüssel, folgt die Frage, wie sich das britische Parlament dazu stellt. Angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse könnten sowohl die Brexit-Hardliner als auch die EU-freundlichen Konservativen einen Deal verhindern. Je länger das Patt im Parlament andauert, desto lauter wird der Ruf nach einem zweiten Referendum werden - nach der ursprünglichen Volksabstimmung von 2016. Oppositionsabgeordnete, aber auch Mitglieder aus Mays konservativer Fraktion fordern das. Noch sind aber sowohl die Regierung als auch Labour-Chef Jeremy Corbyn strikt dagegen.
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