Hamas-Geiseln berichten Schläge, Hunger – und Kartenspiele mit den Wachen

dpa

14.10.2025 - 22:05

Nach 738 Tagen sind auch die letzten Geiseln frei. Nun haben sie in israelischen Medien von ihren Erfahrungen in Gaza berichtet.
Nach 738 Tagen sind auch die letzten Geiseln frei. Nun haben sie in israelischen Medien von ihren Erfahrungen in Gaza berichtet.
-/IDF/AP/dpa

Schläge, Verzweiflung, kleine Gesten: Die Geiseln in Gaza erlebten ein Wechselbad zwischen Gewalt und einem Fünkchen Menschlichkeit. Auch Palästinenser klagen über Grausamkeit in israelischer Haft.

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  • Nach zwei Jahren sind die letzten Hamas-Geiseln freigelassen worden und zurück in Israel.
  • Dort berichten sie nun von ihren Erfahrungen, die von Gewalt und Hunger bis hin zu kleinen menschlichen Gesten reichen.
  • Auf der anderen Seite klagen freigelassene palästinensische Gefangene über Misshandlungen in israelischer Haft.

Avinatan Or schliesst seine Freundin Noa Argamani so eng in die Arme, als wolle er sie nie wieder loslassen. Gerade erst ist er nach zwei Jahren als Hamas-Geisel freigelassen worden. Die israelische Regierung veröffentlichte die Bilder der beiden, für die zwei Jahre Albtraum zu Ende gehen. 

Bei dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 auf dem Nova-Musikfestival waren Noa und Avinatan brutal auseinandergerissen worden. Die herzzerreissende Videoaufnahme der Entführung ging damals um die Welt. Noa schrie inmitten des Gemetzels verzweifelt nach Avinatan, streckte ihre Arme ein letztes Mal nach ihm aus, bevor sie eingeklemmt zwischen zwei Terroristen auf einem Motorrad Richtung Gazastreifen gefahren wurde.

Nun ist der 32-Jährige als einer der letzten 20 lebenden Geiseln freigelassen worden. Dass Noa überlebt und im Juni 2024 von der israelischen Armee befreit werden konnte, erfuhr Avinatan erst bei seiner Freilassung. 738 Tage Ungewissheit, Angst, Hunger und Gewalt. 

Einsamkeit und Verzweiflung

Davor lagen unendliche Monate quälender Einsamkeit. Or war die ganze Zeit über allein ohne je eine andere Geisel zu sehen, wie Angehörige israelischen Medien berichteten. Er habe bis zu 40 Prozent seines Körpergewichts verloren.

Auch andere der Freigelassenen berichteten von körperlicher und psychologischer Folter, von Einsamkeit, Verzweiflung, Angst und Hunger in den dunklen Tunneln der Hamas. Aber auch von Augenblicken der Koexistenz mit ihren Wachen und kleinen menschlichen Gesten.

Augenblicke von Menschlichkeit 

So habe Omri Miran mit seinen Entführern oft Karten gespielt und für ihr leibliches Wohl gesorgt. «Manchmal kochte er für seine Entführer, und sie waren begeistert von seiner Kochkunst», erzählte sein Bruder Nadav der Nachrichtenseite «ynet». «Er wusste genau, welches Datum, welcher Tag war und wie viele Tage er in Gefangenschaft war», fügte sein Bruder hinzu. 

Auch andere Familienmitglieder berichteten von solchen Augenblicken menschlicher Koexistenz. Wenn Terroristen beispielsweise einen zusätzlichen Spieler für ein Kartenspiel brauchten, brachten sie die Geiseln zu sich, wie ein Familienmitglied wiedergegeben wurde. Andere Wachen hätten auch mal Hebräisch mit den Geiseln gesprochen. 

Deutsch-Israelis waren getrennt

Die deutsch-israelischen Brüder Gali und Ziv Berman wurden während ihrer Gefangenschaft getrennt und völlig von der Aussenwelt abgeschnitten. Sie hätten berichtet, dass Zeiten mit ausreichend Essen und dann wieder Monate des Hungers gegeben habe.

Beide, die ohne voneinander zu wissen nahe zusammen festgehalten wurden, hätten auch gehört, wie die israelische Armee in ihrer Nähe operiert. 

Zwischen Staub und Trümmern 

Besonders brutal sollen die Entführer mit Matan Angerest umgegangen sein. Er habe «sehr schwere Folter» erlitten, weil er als Soldat entführt worden war, sagte seine Mutter Anat Angerest dem TV-Sender Channel 12. Er habe bisher nur wenig erzählt, sagte sie.

Er erinnere sich an die schweren Bombardierungen durch die israelische Armee, an die Flugzeuge, die über ihren Köpfen flogen, an die Mauern, die neben ihnen einstürzten, und daran, dass er sich oft inmitten von Staub und Trümmern wiederfand und versuchte, über die Erde zu kommen und zu überleben. 

Palästinenser jubeln Freigelassenen zu

Auch bei der Ankunft von freigelassenen Palästinensern spielten sich emotionale Szenen ab. Umringt von Menschenmassen jubelten Bewohner den Freigelassenen zu, als sie aus den Bussen des Roten Kreuzes ausstiegen. 

Israel musste gemäss der Vereinbarung über eine Waffenruhe mit der Hamas rund 1700 im Gazastreifen festgenommene Palästinenser und rund 250 zu teils lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilte Häftlinge freilassen. Langzeithäftlinge waren unter anderem wegen schwerer Straftaten wie Mord und Beteiligung an Terroranschlägen auf Israelis verurteilt worden.

Einer von ihnen wurde etwa 1989 wegen Vergewaltigung und Mord eines 13-Jährigen für schuldig befunden. Ein anderer war als Drahtzieher von Selbstmordanschlägen in Beerscheva im Jahre 2004, bei denen 16 Menschen getötet worden.

Berichte über Misshandlungen

Einige der Freigelassenen gaben an, misshandelt worden zu sein: «Sie (Soldaten) kamen mitten in der Nacht und übergossen uns mit Wasser. Sie haben uns auf jede erdenkliche Weise gefoltert», sagte der Fotojournalist Schadi Abu Sido aus dem Gazastreifen nach 20 Monaten Haft.

Andere ehemalige Insassen berichteten CNN von Ärzten, die sie geschlagen hätten. Behandlungen bei Verletzungen oder Krankheiten habe es nicht gegeben, wurde ein 45-jähriger Mann zitiert. 

Das UN-Menschenrechtsbüro hatte Israel schon 2024 vorgeworfen, Tausende Palästinenser aus dem Gazastreifen «unter erbärmlichen Zuständen» festgehalten zu haben. Es gebe Berichte über Misshandlungen und Folter, teilte das Büro damals in Genf mit. Mindestens 53 Menschen seien in israelischem Gewahrsam ums Leben gekommen.