Die letzten Ukrainer im Stahlwerk Mariupol «Wir sind im Prinzip tote Männer»

Von Philipp Dahm

10.5.2022

Niemand hätte geglaubt, dass das Regiment Asow in Mariupol so lange durchhält. Die Ukrainer haben sich im Stahlwerk verschanzt und kämpfen um ihr Leben. Sie sind sicher: Gefangene machen die Russen nicht.

Von Philipp Dahm

Mariupol ist vorerst fest in russischer Hand. «Es ist unmöglich, die Blockade der Stadt auf militärischem Weg zu brechen. Es ist heute unmöglich», sagt Wolodymyr Selenskyj am 8. Mai in Kiew. «Das sind nicht nur Gedanken. Es sind Schlüsse, die die Führung der ukrainischen Armee gezogen hat.»

Die einstige Grossstadt am Asowschen Meer ist vorerst verloren, nachdem Russland seinen Vormarsch auf Kiew abgebrochen und seine Truppen im Donbass konzentriert hat. Um die Bedeutung des Ortes zu erkennen, muss man kein Militärexperte sein: Mariupol liegt nach Osten nur 34 Kilometer von der Grenze zum Feindesland. Wer von dort rund 250 Kilometer nach Westen fährt, erreicht die Krim.

Lager von Mariupol in der Ukraine.
Lager von Mariupol in der Ukraine.
Google Earth

Es ist eines der erklärten Kriegsziele Moskaus, hier eine Landbrücke zu erreichen, die vom Donbass bis hin zu der Halbinsel reicht und der Armee die Verteidigung des Gebietes enorm erleichtert. Tatsächlich ist der Vormarsch in der Region einigermassen gut über die Bühne gegangen: Nur Mariupol bleibt ein Stachel im Fleisch des russischen Militärs.

Der Grund dafür ist das Regiment Asow, das einfach nicht aufgeben will: Die ukrainische Einheit hält gegen die russische Übermacht bereits viel länger aus, als es Experten je für möglich gehalten hätten. Sie verteidigen Mariupol, bis sie sich Anfang April auf das riesige Gelände des Metallurgischen Kombinats Asow-Stahl zurückziehen, wo sie sich mit einigen Zivilisten verschanzen.

Noch 2000 Kämpfer im Stahlwerk

Diese sind nun zum Grossteil evakuiert worden, während im Stahlwerk noch rund 2'000 Kämpfer ausharren, von denen 700 verletzt sein sollen. Die Verbliebenen denken gar nicht daran, die Waffen zu strecken: «Gefangen zu werden, heisst sterben», zitiert die «New York Times» den Asow-Offizier Illia Samoilenko: Der 27-Jährige glaubt nicht, dass Moskau seine Männer nach einer Kapitulation am Leben lassen wird.

Bild der Zerstörung: Zivilisten verlassen am 1. Mai das Stahlwerk in Mariupol.
Bild der Zerstörung: Zivilisten verlassen am 1. Mai das Stahlwerk in Mariupol.
Bild: AP

«Wir hier sind im Prinzip tote Männer. Die meisten von uns wissen das. Deshalb kämpfen wir», so Samoilenko. Swiatoslaw Palamar, der zweite Kommandierende der Truppe in Mariupol, ergänzt: «Wir haben nicht viel Zeit. Wir werden permanent bombardiert.» Samoilenko spart auch nicht an Kritik an der Regierung in Kiew: «Wir bekommen keine Unterstützung», beschwert er sich.

Und weiter: «Wir hätten uns vor einigen Monaten locker aus Mariupol zurückziehen können, als die Situation kritisch geworden ist. Und wir haben uns entschieden zu bleiben.» Samoilenko wiederholt, dass seine Leute selbst Kriegsverbrechen mitangesehen hätten und deshalb nicht auf den Anstand des Feindes vertrauen. «Aufgeben ist keine Option.»

Heikle Vergangenheit

«Wir kennen unsere Vergangenheit», sagt Samoilenko noch trotzig. Der Grund? Ins Leben gerufen wird das Regiment Asow im Mai 2014 – als paramilitärische Einheit von Freiwilligen. Der Gründer Andrij Bilezkyi gilt als ultranationalistischer Politiker mit Sympathien für die NS-Ideologie: Unter ihm kommen rechtsextreme Gruppen wie der Prawyj Sektor, zu Deutsch Rechter Sektor, Hooligans des Vereins Metalist Charkiw und anderen Ukrainern zusammen.

Der britische Militärhistoriker Mark Felton über Geschichte und Symbole des Regiments Asow.

Diesen Ursprung erkennt man im Wappen der Einheit: Die Wolfsangel war auch bei den Nazis beliebt. Mitgliedern wird nach 2014 Gewalt gegen Minderheiten wie die Roma vorgeworfen. 2019 sind die USA kurz davor, Asow als terroristische Vereinigung einzustufen – auch deshalb, weil Unterstützer der Neonazi-Organisation Misantrophic Division Mitglieder sein sollen. Ihr Motto lautet: «Töten für Wotan.»

Das Regiment wird noch im Gründungsjahr 2014 als Einheit in die Nationalgarde übernommen und im Lauf der Jahre denazifiziert. Das Nazi-Symbol der Schwarzen Sonne wird aus dem Wappen entfernt, doch die Wolfsangel bleibt erhalten. Die Einheit wächst, während sie nach dem Krim-Krieg 2014 im Donbass die Front zu den Separatisten hält.

Heute: Die besten verfügbaren Freiwilligen

«Jedes Mal, [wenn sie an die Front im Donbass gegangen sind], waren sie extrem erfolgreich», erklärt Glen Grant, Militärexperte und früherer Lieutenant Colonel der Royal Army. Die braune Vergangenheit tritt dabei mehr und mehr in den Hintergrund: «Jetzt sind es im Prinzip anständige Freiwillige, die besten Freiwilligen, die sie kriegen können. Sie sind jeden losgeworden, der wegen seines Rechtsextremismus eine Bürde war.»

Heute seien die Soldatinnen und Soldaten nationalistisch einzuordnen, glaubt Grant. «Sie können sie auch extreme Nationalisten nennen, wenn man will. Aber wissen sie, in Zeiten des Krieges ist das genau das, was man will.» Der frühere Offizier hält den Beitrag der Truppe für entscheidend: «Die Verteidigung von Mariupol wird den Krieg definieren.»

Wie lange die Verteidiger im Stahlwerk noch aushalten können, ist ungewiss: Neben gesunden Kombattanten geht ihnen auch die Munition aus. Ihr Vorteil ist die Unübersichtlichkeit und Grösse des Geländes: Im Kombinat geben bis zu 30 Meter tiefe Stollen auf einer Länge von rund 20 Kilometer Deckung und Schutz.

Nationalisten und Mitglieder des Regiments Asow feiern am 14. Oktober 2016 in Kiew die Gründung der Ukrainischen Aufständischen Armee 74 Jahre zuvor.
Nationalisten und Mitglieder des Regiments Asow feiern am 14. Oktober 2016 in Kiew die Gründung der Ukrainischen Aufständischen Armee 74 Jahre zuvor.
Bild: EPA

Kommandeur von Selenskyj mit Orden ausgezeichnet

Der Kommandeur des Regiments Asow ist Denys Prokopenko, der für seine Dienste am 19. März 2022 von Selenskyj für seine «Tapferkeit, für effektive Taktiken zur Abwehr feindlicher Angriffe und für den Schutz der Heldenstadt Mariupol» mit dem höchsten Orden des Landes ausgezeichnet wird. Prokopenko ist nun ein «Held der Ukraine».

Laut dem Kommandeur hat der russische Gegner nicht nur 25'000 Bewohner*innen der Stadt auf dem Gewissen, sondern setzt im Kampf gegen das Widerstandsnest im Stahlwerk auch Phosphorbomben und Chemiewaffen ein. Am 13. April wird der Soldat für seinen Einsatz zum Oberstleutnant befördert.

Denys Prokopenko, der Kommandeur der Asow-Truppen in Mariupol, links auf einem Foto von 2016, rechts ein aktuelles Bild von ihm. 
Denys Prokopenko, der Kommandeur der Asow-Truppen in Mariupol, links auf einem Foto von 2016, rechts ein aktuelles Bild von ihm. 
Bild: VisegradTV/Screenshot YouTube

Welche Optionen der Kommandeur und seine Leute nun haben? Die Aussichten sind düster, erklärt Samoilenko: Sie könnten die Waffen niederlegen und «auf das Ende warten», das langsam käme, wenn die Soldaten verhungern, oder schnell, wenn sie eine Bombe töte. Die zweite Option sei, «wie ein Feigling zu flüchten» – wie der Kommandeur der 36. Marine-Brigade, der dabei gefangen genommen wurde.

Man könne ausserdem drittens aufgeben oder die vierte Option wählen: «Der einzige Weg, auf dem du dich nicht für dich selber schämen musst und auf dem du am Leben bleibst, ist Widerstand zu leisten und zu kämpfen.» Samoilenko weiss, was es heisst, durchzuhalten: Der Mann hat eine Titan-Prothese am linken Arm und ein künstliches Auge rechts.

Samoilenko ist im Kampf schwer verletzt worden. Dennoch leistet er Russland erbitterten Widerstand.
Samoilenko ist im Kampf schwer verletzt worden. Dennoch leistet er Russland erbitterten Widerstand.