Angriffe tief im russischen HinterlandKiews Drohnen bringen Putins Luftabwehr an ihre Grenzen
dpa
2.11.2025 - 22:22
Die Ukraine verteidigt sich durch auch mit Angriffen auf Energieanlagen im russischen Hinterland.
Evgeniy Maloletka/AP/dpa (Archivbild)
Immer öfter werden Raffinerien und andere Ziele weit im Landesinneren
getroffen. Experten zufolge gibt es in einigen Regionen Russlands
bereits Engpässe bei der Versorgung mit Treibstoff.
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DPA, Redaktion blue News
02.11.2025, 22:22
02.11.2025, 22:30
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Mit Drohnen grösserer Reichweite aus Eigenproduktion setzt Kiew die Energie-Infrastruktur Putins unter Druck und bringt die russische Luftabwehr an ihre Grenzen.
Mit den Attacken auf Anlangen weit im russischen Hinterland hat Kiew in einer wichtigen Phase des Krieges die Initiative ergriffen.
Laut Experten haben die ukrainischen Angriffe mit Langstreckendrohnen die Energie-Infrastruktur zwar noch nicht entscheidend gelähmt, aber durchaus empfindlich beeinträchtigt.
Die Produktion einer Langstreckendrohne ist in der Ukraine inzwischen schon für 55'000 Dollar (rund 44'200 Franken) möglich.
An einem geheimen Ort in einem ländlichen Gebiet in der Ukraine werden bei Nacht und nahezu lautlos reihenweise Drohnen zusammengebaut. Kurz darauf starten die unbemannten Flugobjekte in Richtung Russland. Dort sollen sie strategisch wichtige Ziele angreifen: Raffinerien, Treibstofflager und militärische Logistikzentren. Seit dem Sommer hat die Ukraine den Einsatz von Langstreckendrohnen massiv ausgeweitet – und scheint damit auch die russische Luftverteidigung an ihre Grenzen zu bringen.
Zusammengesetzt aus Einzelteilen, die in einem weitverzweigten Netzwerk von Werkstätten hergestellt werden, legen die ukrainischen Drohnen inzwischen grössere Distanzen zurück als je zuvor in dem bereits seit mehr als dreieinhalb Jahren andauernden Krieg, der von Russland angefangen wurde. Anders als zuvor gibt es nun auch in Russland immer wieder grössere Schäden an Anlagen der Energie-Infrastruktur.
Soldaten mit Körperpanzerung bewegen sich in der Dunkelheit mit schneller Präzision. Sie nutzen nur rotes Licht, das weniger leicht entdeckt werden kann. Motoren gehen an – sie klingen wie die von alten Motorrädern. Abgase steigen in den mondlosen Himmel. Eine nach der anderen heben die Drohnen dann von der provisorischen Startbahn ab.
Aus Sicht von westlichen Analysten haben die ukrainischen Angriffe mit Langstreckendrohnen die russische Energie-Infrastruktur zwar noch nicht entscheidend gelähmt, aber durchaus empfindlich beeinträchtigt.
Insgesamt 16 grosse Anlagen, die laut einer aktuellen Einschätzung des US-Instituts Carnegie Endowment etwa 38 Prozent der nominalen russischen Raffinerie-Kapazität ausmachen, wurden in den vergangenen Monaten immer wieder getroffen.
Das Institut betont aber, dass die langfristigen Auswirkungen überschaubar geblieben seien. In manchen Fällen seien die russischen Behörden zwar gezwungen gewesen, Treibstoff zu rationieren. Aber oft hätten die Schäden an den Erdöl-Anlagen innerhalb von Wochen repariert werden können. Ausserdem seien Einschränkungen bei der Produktion durch ansonsten ungenutzte Kapazitäten sowie durch bisherige Überschüsse abgemildert worden.
Mit den Angriffen auf Anlangen weit im russischen Hinterland hat Kiew aber in einer wichtigen Phase des Krieges die Initiative ergriffen. Die USA und Europa haben gerade die Sanktionen gegen die russische Ölindustrie verschärft. Und während sich Washington bezüglich der Lieferung von weitreichenden Tomahawk-Raketen weiter zurückhält, richten auch die ukrainischen Drohnen laut Präsident Wolodymyr Selenskyj erhebliche Schäden auf russischer Seite an. «Wir gehen davon aus, dass sie bis zu 20 Prozent ihrer Treibstoffvorräte verloren haben – als eine direkte Folge unserer Angriffe», sagte er kürzlich vor Reportern in Kiew.
Auf dem geheimen Startplatz überwacht ein Kommandant mit Nachtsichtbrille, der nur seinen Rufnamen «Fidel» nennt, wie die nächsten Drohnen in den Himmel steigen. «Drohnen entwickeln sich», sagt er der Nachrichtenagentur AP. «Anstatt 500 Kilometer zu fliegen, fliegen sie jetzt 1000.» Für eine erfolgreiche Operation seien aber drei Dinge wichtig, betont er – «die Drohnen, die Menschen und die Planung». Es gehe darum, das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. «Für uns ist dies eine heilige Mission.»
Einfach und effektiv
Die meisten Drohnen, die von der Ukraine eingesetzt werden, sind Eigenentwicklungen. Eine davon ist die «Ljutyj». Sie sieht weder elegant noch einschüchternd aus. Dafür kann sie besonders leicht zusammengebaut werden, sodass es für den Gegner schwerer ist, Produktionsstätten zu lokalisieren. Auch Anpassungen sind ohne Weiteres möglich. Die Herausforderung, die sich jedes Mal aufs Neue stellt, ist die, den stark überwachten Luftraum entlang der Front unbemerkt zu durchqueren.
Durch die enorm vergrösserte Reichweite der Drohnen hat sich die Geografie des Krieges verändert. Bis vor einem Jahr konnte die Ukraine nur Raffinerien in der Grenzregion ernsthaft beschädigen. Nun müssen die Einheiten der russischen Luftabwehr ein sehr viel grösseres Gebiet abdecken. Hinzu kommt, dass die Kosten für die Herstellung von Drohnen enorm gesunken sind. Die Produktion einer Langstreckendrohne ist in der Ukraine inzwischen schon für 55'000 Dollar (rund 44'200 Franken) möglich. Und da es sich um Eigenentwicklungen handelt, gibt es – anders als bei einigen westlichen Langstreckenraketen – auch keine konkreten Einsatzbeschränkungen.
Die Ukraine kann Langstreckendrohnen bereits für unter 50'000 Franken produzieren.
Efrem Lukatsky/AP/dpa (Archivbild)
Krieg wird Richtung Russland verlagert
«Wir erleben gerade, dass es der Ukraine besser gelingt, den Krieg nach Russland zu verlagern», sagt Adriano Bosoni von dem Unternehmen Rane, das Analysen zu globalen Risiken erstellt. Die Russen seien im bisherigen Verlauf des Krieges immer von der Prämisse ausgegangen, dass das eigene Territorium sicher sei. «Das ist jetzt nicht mehr der Fall», betont Bosoni. Ziel der Ukraine sei, die Logistik des Gegners zu strapazieren, um dessen Fähigkeiten, gross angelegte Operationen über längere Zeit hinweg am Laufen zu halten, einzuschränken.
Laut Angaben der Internationalen Energieagentur haben die ukrainischen Drohnenangriffe die russischen Raffinerie-Kapazitäten um etwa 500'000 Barrel pro Tag verringert. Dadurch kommt es nicht nur zu Engpässen bei der Versorgung im Land selbst. Auch die Exporte von Diesel und Flugzeugtreibstoff musste Russland bereits reduzieren.
Ein Kampf für kommende Generationen
Für «Fidel» und seine Kameraden geht es Nacht für Nacht darum, eine Vielzahl von Faktoren gegeneinander abzuwägen. Weniger als 30 Prozent der Drohnen würden das Zielgebiet erreichen, sagt der Kommandant. Sorgfältige Planung sei daher essenziell. «Wir sammeln gerade Erfahrung, die von jedem Land auf der Welt genutzt werden wird.»
Er und seine Leute würden dafür allerdings einen hohen Preis bezahlen, betont «Fidel». «Wir bezahlen den Preis mit unseren Leben und mit den Leben unserer Freunde.» Aber der Krieg sei eben seiner Generation zugefallen. Es sei ein Kampf für die eigenen Kinder, damit diese später einmal «in einem freien, demokratischen Land» leben könnten.
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