Kaukasus und Co. Grossmacht Türkei? Ankaras neuer «erheblicher Einfluss»

Von Philipp Dahm

6.10.2020

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg mit dem türkischen Aussenminister Mevlüt Cavusoglu (rechts) am 5. Oktober in Ankara. 
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg mit dem türkischen Aussenminister Mevlüt Cavusoglu (rechts) am 5. Oktober in Ankara. 
Bild: Keystone

Die Türkei ist aussenpolitisch aktiv wie noch nie: Ankara mischt in Libyen, Syrien, im Mittelmeer und im Kaukasus mit. Präsident Erdogan trimmt das Land auf Grossmacht – und die Nachbarn sorgen sich.

Die Nato macht sich Sorgen wegen der neuerlichen Kämpfe, die zwischen Armenien und Aserbaidschan ausgebrochen sind – und wird deswegen in Ankara vorstellig. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg traf daher am Montag den türkischen Aussenminister Mevlüt Cavusoglu.

«Wir sind zutiefst besorgt über die Eskalation der Feindseligkeiten», bekundet Stoltenberg später und fügt vielsagend an: «Ich erwarte, dass die Türkei ihren erheblichen Einfluss nutzt, um Spannungen abzubauen. Alle Seiten sollten sofort aufhören zu kämpfen und einen Weg zu einer friedlichen Lösung finden.»

Das verdeutlicht, dass an Präsident Recep Tayyip Erdogan kein Vorbeikommen ist, wenn es um eine mögliche Waffenruhe im Kaukasus geht: Die Türkei ist nicht nur ein treuer Verbündeter Aserbaidschans, sondern trägt selbst durch markige Worte Richtung Armenien und mehr oder weniger verdeckte Militärhilfe dazu bei, den Konflikt anzuheizen.

Herr der Drohnen

Zum Beispiel mit Waffen. Aserbaidschan führt den Krieg vermehrt mit Drohnen, die zum Teil aus israelischer Produktion stammen: Nachdem in Videos ersichtlich wurde, dass Baku den Orbiter 1K im Einsatz hat, rief Armenien sogar seinen Botschafter aus Israel zurück. Schon im Juni hat Aserbaidschan in der Türkei Interesse am Kauf von Kampfdrohnen vom Typ Bayraktar TB2  bekundet.

Armenische Artillerie im Einsatz in Berg-Karabach am 6. Oktober 2020.
Armenische Artillerie im Einsatz in Berg-Karabach am 6. Oktober 2020.
Bild: Keystone

Mit dieser Drohne hat Ankara in Libyen überraschend viele Erfolge gefeiert, wo türkische Verbündete gegen Gruppen kämpfen, die von Frankreich und Russland unterstützt werden. Auch in Syrien haben die türkische Drohnen ihre Missionen beängstigend präzise ausgeführt – und nun bewährt sich die Technik im Dienst Aserbaidschans: Erneut machen Videos von russischer Flugabwehr die Runde, die trotz Radars den hochfliegenden Tod nicht sieht.

Kanada hat gerade bekanntgegeben, wegen solcher Bilder keine Drohnen-Technologie mehr an die Türkei weitergeben zu wollen – dabei ist fraglich, ob Ankara darauf noch gross angewiesen ist.

Grosser Rüstungssprung nach vorn

Die dortigen Rüstungsindustrie hat in den letzten Jahrzehnten einen grossen Sprung nach vorn gemacht: In der diesjährigen Top-100-Liste von «Defence News» finden sich mittlerweile sieben türkische Rüstungsfirmen. Zum Vergleich: Frankreich ist fünf Mal vertreten, Deutschland drei Mal und die Schweiz ein Mal – durch die Ruag.

Während die Türkei vor 15 Jahren noch 20 Prozent des Rüstungsbedarfs aus eigener Produktion decken konnte, sind daraus heute rund 70 Prozent geworden. Kein Wunder, dass Präsident Erdogan vergangene Woche die Diplomaten Frankreichs, Russlands und der USA kühl abblitzen liess, als die auf eine Waffenruhe drängten.

Die Türkei ist wieder wer – und handelt wie im Kaukasus ähnlich wie zuletzt auch in Syrien: überraschend und offensiv, um Fakten zu schaffen. Auch wenn Ankara verneint, direkt in die Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan verwickelt zu sein, wirft Eriwan Ankara vor, mit einer F-16 eine armenische Su-25 abgeschossen zu haben. Ausserdem soll die Türkei islamistische Kämpfer aus Syrien in den Kaukasus geschleust haben.

Nachbarn werden argwöhnisch

Russland ist als Schutzmacht Armeniens davon nicht begeistert: Moskau hat via den Iran weitere Kampfflugzeuge vom Typ Mig-29 nach Armenien verlegt, wo die Russen eine grosse Militärbasis unterhalten. Truppen aus Aserbaidschan vermelden derweil, in Berg-Karabach weitere Dörfer eingenommen zu haben. Beide Seiten werfen sich gegenseitig vor, zivile Zonen unter Artilleriebeschuss zu nehmen.

Erdogans nationalistisch-forsches Auftreten beschert einigen Nachbarn inzwischen Kopfzerbrechen. Nachdem in Israel zuletzt laut darüber nachgedacht wurde, ob sich die Türkei nicht zu einem Problem für das Land entwickeln könnte, schien Erdogan kürzlich seine Skeptiker bestätigen zu wollen: «Jerusalem ist unsere Stadt», polterte der Präsident kürzlich mit Blick auf die 400 Jahre dauernde Herrschaft des Osmanischen Reichs.

Mittlerweile sieht der israelische Verteidigungsminister Benny Gantz in der Türkei sogar ein Hindernis für den Frieden – und Israel liegt damit ganz auf einer Linie  mit den sunnitischen Golfstaaten, mit denen es jetzt wieder diplomatische Verbindungen pflegt: Auch die Arabische Liga verurteilt Ankaras aggressive neue Aussenpolitik. In Saudi-Arabien haben Offizielle nun zum Boykott «von allem Türkischen» aufgerufen.

An der Quelle

Die Sorgen der Staaten im Kaukasus und im Nahen Osten scheinen nicht  unbegründet. Die Türkei, die sich anschickt, als neue regionale Grossmacht an der Schnittstelle zwischen Ost, West, Nord und Süd aufzutreten, hat geopolitisch kaum Optionen. Solange die Nato und die EU bestehen, ist ihre westliche Flanke am Marmarameer geschützt.

Und weil durch den Kaukasus nur zwei Pässe führen, von denen einer im befreundeten Aserbaidschan und der andere in Georgien liegt, das kein Freund Russlands ist, bleiben für eine Expansion nur noch das Mittelmeer und der Nahe Osten abseits des Irans. In dieser Einflusssphäre ist die Türkei bereits aktiv – vordergründig um die kurdische PKK zu bekämpfen.

Die Herausforderungen der Türkei im Mittelmeer und Asien auf einen Blick.
Die Herausforderungen der Türkei im Mittelmeer und Asien auf einen Blick.
Karte: YouTube/CaspianReport

Langfristig hat Ankara sowohl im Umgang mit Kurden wie auch Syrern und Irakern die besseren Karten: Die Türkei baut derzeit an einem immensen Dammsystem, mit dem sie diesen Völkern und Ländern das Wasser abdrehen kann, weil es an den Quellen von Euphrat und Tigris sitzt. In Syrien beklagen Kurden jetzt schon, dass Ankara sie trockenlegen will.

Erst der Anfang?

Im Mittelmeer ist davon auszugehen, dass die Türkei alles tun wird, um Zypern als vorgelagerte Stellung zu behalten, die das anatolische Kernland maritim abdeckt und auch den Zugriff die ägyptische und libysche Küsten vereinfacht. In der Ägäis wird Erdogan vor allem darauf setzen, internationale Schifffahrtswege freizuhalten, um nicht von Griechenlands Segen abhängig zu sein, um ins Schwarze Meer zu gelangen.

Fazit: Ankara hat offenbar beschlossen, sein aussenpolitisches Schicksal aktiver in die Hand zu nehmen. Es agiert dabei vor allem an jenen strategischen Punkten, durch die es seine Ausgangslage für etwaige spätere Kampagnen verbessern kann. Die Türkei trägt neues Selbstbewusstsein zur Schau – und womöglich steht das Land damit sogar erst noch am Anfang.

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