Vor Treffen mit Scholz und LaschetGrüne und FDP wollen «Aufbruch» für Deutschland
Von Carsten Hoffmann und Martina Herzog, dpa
1.10.2021 - 19:42
«Historischer Moment» und gemeinsamer «Aufbruch». Grüne und FDP in Deutschland vertiefen Pläne für eine gemeinsame Regierungsbeteiligung. Am Wochenende treffen sie die grösseren Parteien – getrennt.
DPA, Von Carsten Hoffmann und Martina Herzog, dpa
01.10.2021, 19:42
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Grüne und FDP gehen nach ihrer jüngsten Gesprächsrunde über eine künftige Regierung in Deutschland mit demonstrativer Einigkeit in geplante Treffen mit Union und SPD.
«Wir fühlen uns gemeinsam beauftragt, in Deutschland einen neuen Aufbruch zu organisieren», sagte FDP-Chef Christian Linder am Freitag in Berlin nach dreistündigen Sondierungen. Grünen-Chefin Annalena Baerbock sprach von einem «historischen Moment». Es gehe darum, ein neues Bündnis zu schaffen, das für einen Aufbruch und «eine wirkliche Erneuerung» sorgen solle – gerade bei grossen Aufgaben, bei denen es über Jahre Stillstand gegeben habe. Zu sachlichen Inhalten und möglichen Streitpunkten äusserten sich beide Seiten nach dem Treffen nicht.
Sowohl die SPD als Sieger der Parlamentswahl vom 26. September (25,7 %) als auch Wahlzweiter CDU/CSU (24,1 %) brauchen Koalitionspartner, um regieren zu können. Die Grünen hatten mit 14,8 Prozent ihr bislang bestes Ergebnis erzielt und sind nun drittstärkste Kraft im Parlament. Die FDP verbesserte sich auf 11,5 Prozent und stellt die viertstärkste Partei im künftigen Bundestag.
Während die Union aus CDU und CSU mit sich selbst und CDU-Chef Armin Laschet hadert, zelebrieren Lindner, der Grünen-Co-Vorsitzende Robert Habeck und Baerbock genüsslich Geschlossenheit. Der Auftritt wirkt gut sortiert. Ein Moment der Unsicherheit, wer zuerst spricht (Baerbock), dann geht es reihum, erst bei den Statements, dann bei der Antwort auf Journalistenfragen – genauso wie es die grüne Doppelspitze bei gemeinsamen Auftritten hält.
Die 16-jährige Ära von CDU-Kanzlerin Angela Merkel mag vorbei sein. Die lange verlachte und intern zeitweise tief gespaltene SPD steht plötzlich als Wahlsieger da – und die beiden Königsmacher FDP und Grüne präsentieren sich dieser Tage als ordnende Kraft. «Auch unsere Wahrnehmung ist, dass das, was nach dem Wahlkampf eben auch drohte – grosses Kuddelmuddel, Orientierungslosigkeit, Ohgottogottogott, was haben wir denn da gewählt? Was soll denn daraus werden? – eher einer Neugier, vielleicht auch einer Suche nach Orientierung gewichen ist», sagte Habeck. Dass Grüne und FDP «zusammen einen grossen Teil dieser orientierungsgebenden Kraft stellen können», das merkten sie in diesen Gesprächen.
«Die Bundestagswahl war eine Zäsur»
«Die Bundestagswahl war eine Zäsur», sagte Lindner. «Es soll etwas Neues in Deutschland entstehen.» Der Status quo der vergangenen Jahre – also die Politik der grossen Koalition – sei allerdings aus unterschiedlichen Perspektiven bewertet und kritisiert worden. «Deshalb führen wir jetzt Gespräche darüber, wie das gemeinsam Trennende überwunden werden kann, welche Brücken gebaut werden können. Etwa im Bereich des Klimaschutzes und im Bereich der Finanzen gibt es zweifelsohne Unterschiede», sagte Lindner. «Jetzt geht es darum, diese Brücken zu suchen. Der Prozess hat heute in einer guten Atmosphäre, er ist allerdings nicht abgeschlossen.»
Brücken bauen – das gilt offenbar auch bei einem der umstrittensten Themen in der Verkehrspolitik: einem generellen Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Die Grünen sind dafür, wie auch die SPD. Die FDP lehnt ein Tempolimit ab, Verkehrspolitiker der Fraktion sprachen von «Symbolpolitik».
Für Aufsehen sorgten vor den Gesprächen der Spitzen von Grünen und FDP Aussagen von Anton Hofreiter: der Grünen-Fraktionschef signalisierte Gesprächsbereitschaft beim Streitthema. Hofreiter sagte der «Rheinischen Post» und dem Bonner «General-Anzeiger»: «Selbstverständlich gehen wir mit unseren gesamten Positionen in diese Verhandlungen, dazu gehört auch ein Tempolimit 130 auf Autobahnen.» Auf die Frage, ob die Grünen einen Koalitionsvertrag ohne Tempolimit unterschreiben würden, sagte er: «Ich halte nichts davon, einzelne Massnahmen zur Bedingung zu machen, das verkompliziert die Verhandlungen und wird unserer Aufgabe nicht gerecht.» Die drei Parteichefs wollten sich dazu am Freitag nicht äussern.
Der Gesprächsreigen geht am Wochenende weiter: Am Sonntag wollen erst SPD und FDP miteinander sprechen, dann SPD und Grüne. Als wahrscheinlich gelten derzeit eine sogenannte Ampelkoalition beider Parteien unter Führung der SPD oder ein sogenanntes Jamaika-Bündnis unter Führung der Union.
Schräge Schraube
Habeck machte deutlich, dass Grüne und FDP im Gespräch bleiben wollen. Und zwar auch wenn beide Parteien am Wochenende Gespräche mit Union und SPD als möglichem Dritten im Bunde eröffnet haben. «Und dann wird man sehen, welche Dynamik die nächsten Tage, vielleicht Wochen entfalten. Wichtig ist es ja, richtig in einen Prozess reinzukommen», sagte Habeck und stellte auch gleich einen Vergleich an. «Also, wenn man die Schraube schräg einsetzt, dann wird sie nie wieder gerade. Diese Schraube ist jedenfalls in den ersten Tagen sehr gerade eingesetzt worden.» Das sei doch ein ganz guter Start auf dem Weg zur Bildung einer neuen Regierung.
Es war der gemeinsame öffentliche Auftritt der drei Politiker nach den laufenden Sondierungsgesprächen. Das Treffen war ein einem neutralen Ort in einem Bürogebäude direkt neben dem Berliner Zoo organisiert worden. Das Affenhaus war praktisch nur ein Steinwurf entfernt, das Raubtierhaus («Reich der Jäger») wird grad umgebaut für eine Wiedereröffnung 2021.