GuyanaHaitis Regierungschef kündigt Rücktritt an – wie geht es weiter
SDA
12.3.2024 - 17:08
Nach einer Eskalation der Bandengewalt in Haiti hat der Interims-Premierminister des Karibikstaates, Ariel Henry, seinen Rücktritt angekündigt. Er werde das Amt niederlegen, sobald ein Übergangsrat eingerichtet und sein Nachfolger ernannt sei, teilte er in der Nacht zum Dienstag (Ortszeit) in einem Video mit, das sein Büro bei Facebook veröffentlichte.
12.03.2024, 17:08
SDA
Kurz zuvor hatten die Regierungschefs der karibischen Staatengemeinschaft (Caricom) nach einem Treffen in der jamaikanischen Hauptstadt Kingston mitgeteilt, sie hätten sich auf die Schaffung eines Präsidialrats geeinigt – für den politischen Übergang hin zu Wahlen. Daran seien auch haitianische Interessenvertreter beteiligt gewesen. An dem Treffen nahm auch US-Aussenminister Antony Blinken teil.
Was wurde vereinbart?
Nach Angaben der Caricom soll sich ein Rat mit sieben stimmberechtigten Mitgliedern und zwei nicht stimmberechtigten Beobachtern aus Vertretern mehrerer politischer Parteien und zivilgesellschaftlicher Gruppen sowie der Privatwirtschaft zusammensetzen. Der Rat soll einen neuen Interims-Premierminister und ein Kabinett ernennen, einen Wahlrat einrichten und zusammen mit der internationalen Gemeinschaft den Einsatz einer multinationalen Truppe zur Unterstützung der haitianischen Polizei vorantreiben.
Vom Übergangsrat ausgeschlossen ist, wer wegen eines Verbrechens angeklagt oder verurteilt, von den Vereinten Nationen mit Sanktionen belegt wurde, bei der nächsten Wahl kandidieren will oder gegen eine vom UN-Sicherheitsrat genehmigte Sicherheitsmission ist. Ein Zeitplan für die Mission oder die Schaffung des Rats wurde nicht genannt.
Wie tief steckt Haiti in einer Krise?
Die Gewalt mächtiger Banden, die oft Verbindungen zu Politikern haben, hat seit der Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse in der Nacht zum 7. Juli 2021 immer weiter zugenommen. Inzwischen haben die Banden laut UN rund 80 Prozent von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince unter ihrer Kontrolle. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind etwa 362 000 Haitianer innerhalb des Landes vertrieben, mehr als die Hälfte davon Kinder. Fast die Hälfte der rund elf Millionen Einwohner Haitis leidet unter akutem Hunger.
Bereits seit Anfang 2020 hat Haiti kein beschlussfähiges Parlament mehr. Für den 26. September 2021 angesetzte Präsidenten- und Parlamentswahlen wurden wegen der Sicherheitslage auf unbestimmte Zeit verschoben und bis heute nicht nachgeholt.
Ende Februar schlossen sich die zwei mächtigsten Banden zusammen. Ihr Anführer, der Ex-Polizist Jimmy Chérizier alias «Barbecue», erklärte, wenn Henry nicht zurücktrete, werde es zu einem Bürgerkrieg kommen. Banditen legten grosse Teile Haitis mit ihrer Gewalt lahm: Sie griffen unter anderem Polizeiwachen und Flughäfen an. Auch wurden mehr als 4500 Häftlinge aus Gefängnissen befreit. Diplomaten der EU wie der USA verliessen vergangenes Wochenende Haiti. Es gehen keine Flüge von und nach Haiti mehr.
Die Eskalation fiel mit einer Auslandsreise Henrys zusammen, die ihn am 1. März nach Kenia führte – das ostafrikanische Land will die Sicherheitsmission in Haiti anzuführen. Zuletzt flog Henry am 5. März nach Puerto Rico, nachdem ihm die an Haiti grenzende Dominikanische Republik keine Landeerlaubnis erteilt hatte. In Henrys Abwesenheit erklärte Finanzminister Michel Boisvert einen Ausnahmezustand.
Warum musste Henry zurücktreten?
Moïse hatte den Neurochirurgen und Ex-Innenminister Henry am 5. Juli 2021 zum bereits siebten Premierminister und damit Regierungschef seiner umstrittenen Amtszeit ernannt. Keine 36 Stunden später, noch vor Henrys Vereidigung, wurde Moïse in seiner Residenz erschossen. Die Hintergründe des Attentats sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Nachdem zunächst der damalige Aussenminister Claude Joseph die Regierungsgeschäfte übernommen hatte, wurde Henry mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft am 20. Juli 2021 zum Interims-Premierminister.
Die Wahrnehmung, dass er von aussen eingesetzt und an der Macht gehalten wurde, trug zu Henrys Unbeliebtheit bei. Ausserdem gab es nur wenige spürbare Bemühungen seiner Regierung, die Krise zu bewältigen. Henrys Entscheidung, die Kraftstoffpreise deutlich zu erhöhen, führte 2022 zu Ausschreitungen.
Seit der 74-Jährige im Ausland festsitzt, meldete er sich nicht zu Wort. Viele Menschen fühlen sich im Stich gelassen. «Es ist fast wie eine Familie, wo die Mutter und der Vater das Zuhause verlassen haben. Und die Kinder sind da und werden von allen Seiten angegriffen», sagte die haitianische Schriftstellerin und Aktivistin Monique Clesca der Deutschen Presse-Agentur.
Gegen Henry wurde zudem im September 2021 im Zusammenhang mit der Moïse-Ermordung ermittelt, weil er mit einem Hauptverdächtigen telefoniert haben soll. Henry entliess den Staatsanwalt und den Justizminister.
Wird die Bandengewalt jetzt nachlassen?
Davon ist nicht auszugehen. Die Bedingungen zur Teilnahme am Übergangsrat schliessen unter anderem den Bandenchef Chérizier aus. Er wurde im Jahr 2022 vom UN-Sicherheitsrat mit Sanktionen belegt. Dem Ex-Polizisten, der sich als Kämpfer für das Volk darstellt, wird unter anderem eine Beteiligung an einem Massaker mit mindestens 71 Toten in La Saline, einem Stadtteil von Port-au-Prince, im November 2018 vorgeworfen. Chérizier sagte am Montag haitianischen Medien, die Caricom könne nicht entscheiden, wer Haiti führen soll. Das stehe allein dem Volk zu.
Wie sagen Menschen in Haiti zu den Entwicklungen?
Viele Haitianer lehnen jedwede ausländische Einmischung ab. Dass Haiti heute das ärmste Land des amerikanischen Kontinents ist, ist auch eine Folge langjähriger Reparationszahlungen an die frühere Kolonialmacht Frankreich. Ab 1915 besetzten die USA 19 Jahre lang den Karibikstaat. Nach einem Putsch 2004 kamen erneut US-Soldaten, gemeinsam mit UN-Friedenstruppen, um die Lage zu beruhigen. Die Blauhelme der UN-Stabilisierungsmission Minustah lösten einen Cholera-Ausbruch aus und wurden zahlreicher Sexualverbrechen beschuldigt.
Sie sei erfreut und erleichtert über Henrys Rücktrittsankündigung, sagte Clesca, die sich als Mitglied der zivilgesellschaftlichen Montana-Gruppe für eine von Haitianern bestimmte Lösung der Krise einsetzt. Bei manchen der Gruppen, aus denen sich der Übergangsrat bilden soll, handle es sich allerdings um die «üblichen Verdächtigen».
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