Das Chile-Paradox Die Neuinfektionen steigen trotz hoher Impfquote rasant an 

uri

22.6.2021

Sanitäter in Chile verlegen während der Corona-Pandemie Patienten in andere Spitäler. 
Sanitäter in Chile verlegen während der Corona-Pandemie Patienten in andere Spitäler. 
Bild: Getty Images (Archivbild)

Noch vor drei Monaten wurde Chile als Impf-Champion gefeiert. Nun gilt das südamerikanische Land mit seinen steigenden Fallzahlen als Negativbeispiel dafür, was man in der Pandemie alles falsch machen kann – und damit auch als Warnung für andere Länder.

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In Chile sind bereits fast 50 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Noch einmal mehr als 13 Prozent haben immerhin die erste Dosis erhalten. Damit liegt das Land bei der Impfquote unter den Top-5 noch vor Grossbritannien. Und trotzdem sind die Fallzahlen im Land mit knapp 19 Millionen Einwohnern seit Februar wieder stark angestiegen.

Laut Zahlen der US-amerikanischen Johns Hopkins Universität wurden am 18. Juni über 5700 neue Fälle an einem Tag registriert, die Sieben-Tage-Inzidenz lag bei einem Wert von 234,1. Zum Vergleich: Die Schweiz hatte am selben Tag 173 Neuinfektionen zu verzeichnen und einen zehnfach geringeren Wert von 20,3 bei der Sieben-Tage-Inzidenz.

Die chilenische Public-Health-Expertin Soledad Martínez von der Universität in Chile in der Hauptstadt Santiago schilderte die Situation im Land erst vor wenigen Tagen in drastischen Worten. Martínez, die noch vor zwei Monaten hoffnungsvolle Botschaften verbreitet hatte, sagte dem «Spiegel», die Situation sei nun «katastrophal».



Die Intensivstationen in den Spitälern seien komplett überlastet, das Gesundheitssystem mehr oder weniger kollabiert. Erkrankte würden inzwischen «auch in ambulanten Einrichtungen aufgenommen oder zu Hause behandelt», berichtete Martinéz. Zudem seien auf den Intensivstationen wieder alle Betten belegt.

«Wir haben hohe Todeszahlen, und es sterben jüngere Menschen. Besonders schrecklich ist, dass leider auch schwangere Frauen und ihre ungeborenen Babys sterben oder intubiert werden müssen.» Solche Schicksale seien «extrem deprimierend».

Die erfolgreiche Impfkampagne hat nicht geschützt

Die Gründe für den abrupten Umschwung in Chile sind vielfältig. Eine Ursache könnte etwa das Zirkulieren der ursprünglich aus Brasilien kommende Gamma-Variante (P1) des Coronavirus sein. Bei dieser Mutante lassen vorliegende Daten vermuten, dass Impfungen weniger gut gegen sie schützen. Ebenfalls verantwortlich gemacht werden das Klima im nun herrschenden chilenischen Winter, beengte Platzverhältnisse in den grossen Städten und nicht zuletzt Fehler in der Kommunikation durch die Regierung.

So kritisiert Martínez im «Spiegel», dass sich die Politik für die gelungene Impfkampagne habe feiern lassen, dabei aber die Risiken verschwieg. Alle zweifach Geimpften hätten etwa erst vor Kurzem sogenannte Mobilitätspässe erhalten, mit denen sie sich nur noch teilweise an die Lockdown-Bestimmungen halten müssten. Es sei nun unmöglich zu überprüfen, wer sich wirklich alles draussen tummle – der Lockdown also nicht mehr effektiv.

In den Blick für das Debakel gerät aber auch mehr und mehr die eigentlich erfolgreiche Impfkampagne des Landes. Denn diese hat die Bevölkerung nun offenbar längst nicht so gut geschützt, wie alle erhofft haben.

«Impfstoffe sind keine Wunderwaffen»

Der brasilianische Epidemiologe Jarbas Barbosa, stellvertretender Direktor der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (PAHO), führte Chile im Gespräch mit  der BBC denn auch als ein Paradebeispiel dafür an, dass man aus solchen Fällen lerne, dass «Impfstoffe keine Wunderwaffen sind». Schliesslich verhindere keine Impfung eine Übertragung am nächsten Tag. Auch gebe es einen kompletten Schutz erst nach der zweiten Dosis. Zudem seien selbst Impf-Vorreiter wie Chile noch weit von der Herdenimmunität entfernt, bei der 70 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sein müssten.

Barbosa fordert deshalb die Aufrechterhaltung gängiger Massnahmen, bis die Gesellschaft Übertragungen wirklich komplett kontrollieren könne. Ähnlich sieht das auch Gesundheitsexpertin Martínez, wobei diese auch den Impfstoff Coronavac des chinesischen Herstellers Sinovac für das derzeitige Debakel in Chile wenigstens mitverantwortlich macht.



Bei Coronavac wisse man seit Langem, dass er zwar vor schweren Verläufen einer Covid-Erkrankung gut schütze, «aber weniger gut vor einer Infektion mit dem Virus», so Martinéz. Das bedeute, dass man das Virus trotz Impfung weitergeben könne. Wenn übliche Massnahmen dann nicht mehr eingehalten würden, könne eine solche «undichte Impfung» zu einer raschen Verbreitung des Coronavirus führen.

Vor einem solchen Szenario hätten auch Gesundheitsexperten in Chile gewarnt, erklärt die Wissenschaftlerin. Man habe jedoch nicht auf sie gehört. «Für mich fühlt es sich an wie ein Zugunglück in Zeitlupe, bei dem ich zusehen muss. Man hätte das verhindern können.»

Das Modell vom Schweizer Käse

In globaler Perspektive müsse man sich auch eingestehen, dass Impfung nicht gleich Impfung sei, wird Martinéz deutlich. Vektor-Vakzine und die mRNA-Impfstoffe – wie sie in der Schweiz verwendet werden – könnten besser vor Infektionen schützen. Zudem sei es sehr einfach, die mRNA-Impfstoffe an neue Varianten anzupassen. Deshalb sei es unabdingbar, dass künftig alle über diese Technologie verfügen könnten.



In Anbetracht der Tatsache, dass die Herdenimmunität wohl noch in keinem Land der Welt erreicht ist, die Impfwilligkeit in manchen Gesellschaften und Altersgruppen teils sinkt und das Virus weiter mutiert, hält Martinéz einen Rat bereit: «Kein Land der Welt sollte jetzt so tun, als sei alles vorbei und Massnahmen wie zum Beispiel das Maskentragen aussetzen. Das ist eine wirklich schlechte Idee.»

Man solle sich weiterhin am Modell vom Schweizer Käse mit vielen Löchern orientieren. Dabei würden Impfungen eine Schicht des Käses abdecken und einige Löcher stopfen. Um aber viele Schlupflöcher für die Virusübertragung zu stopfen, seien derzeit noch andere Massnahmen nötig: soziale Distanzierung, Quarantäne, Contact Tracing und die Überwachung neuer Mutanten.