Migrantenkarawane durch Mexiko Hunderte Kilometer Fussmarsch – in Plastiksandalen

AP

5.11.2018

US-Präsident Trump sieht Kriminelle im Anmarsch und droht mit Armee-Gewalt. Schaut man hin, zeigt sich aber ein anderes Bild: Häufig sind es Familien mit Kindern, die in den USA ein besseres Leben suchen.

Donald Trump warnt vor Gang-Mitgliedern und anderen «sehr schlechten Menschen», die sich im Zug der Migranten durch Mexiko auf die USA zubewegten. Doch es sind vor allem Familien mit Kindern, die die Strapazen auf sich nehmen – in der Hoffnung auf ein besseres Leben.



Es ist drei Uhr nachts, irgendwo an einer Autobahn im Süden von Mexiko. Seit 15 Tagen sind Joel Eduardo Espinar und seine Familie unterwegs. Die Strapazen der Reise machen sich inzwischen schmerzhaft bemerkbar. Dabei müssen sie noch ein ganzes Land durchqueren, um an ihr Ziel zu gelangen: die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie kommen aus Honduras, haben sich einem riesigen Zug von Migranten aus Mittelamerika angeschlossen und bewegen sich langsam auf die Grenze der USA zu.

Der elfjährige Jason hat Bauchschmerzen, legt sich auf den Seitenstreifen der Autobahn. Seine zwölf Jahre alte Schwester Tifany Diana setzt sich neben ihn, ihren Kopf zwischen den Knien. Der zweijährige Eduardo liegt im Kinderwagen, glüht vor Fieber. Espinars Frau, Yamilet Hernandez, quält sich mit Husten und Halsschmerzen.

Flucht vor der Kriminalität

Trotz der etwa 150 Kilometer Fussmarsch in Plastiksandalen sind die Füsse wie durch ein Wunder noch ohne Blasen. Da müssten die restlichen 100 Kilometer auch noch zu schaffen sein, sagt sich Espinar, während er den Kinderwagen vor sich herschiebt. Er treibt seine Kinder an: «Wer vorwärtskommen will, muss Opfer bringen.»

US-Präsident Donald Trump hat Tausende Soldaten an die Grenze beordert, um die Migrantengruppen zu stoppen und zu verhindern, dass nach seinen Worten «viele Gang-Mitglieder und einige sehr schlechte Menschen» in die USA gelangen. Doch der grösste Teil der Menschen, denen Trump die Soldaten entgegenstellt, sind Menschen wie Espinar und seine Familie: Verzweifelt, verängstigt, in Plastikschuhen und mit der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Die Espinars haben schon viel geopfert. Die beiden Töchter Yamilets im Alter von 16 und 18 Jahren wollten nicht mitkommen. Sie blieben bei Espinars Eltern. Espinar brach in Tränen aus, als er sich von seiner Mutter verabschiedete. Sie sagte ihm, er tue das Richtige. In seiner Heimat gebe es keine Zukunft.

Die Familie lebte in La Conce in Olancho, einer der gefährlichsten Gegenden in einem der gefährlichsten Länder Lateinamerikas, wo sich Drogenhändler und Gangs bekriegen. Vier von Espinars Freunden wurden erstochen, seine Frau zweimal auf dem Weg von der Arbeit ausgeraubt. Sie verkaufte an einem Strassenstand Rosquillas, einen traditionellen honduranischen Imbiss aus Maismehl und Käse.

Espinar, 27 Jahre alt, wuchs in La Conce auf, verliess die Schule in der fünften Klasse und baute mit seinem Vater Wassermelonen an. Doch in den vergangenen zwei Jahren trieb die Inflation die Preise nach oben, mit seinem Einkommen von knapp 70 Franken die Woche konnte er seine Familie nicht mehr ernähren.

Bis zu 230 Kinder mit unterwegs

Tifany Diana musste die Schule verlassen, weil die Eltern das Schulgeld nicht mehr aufwenden konnten. Jason ging niemals zur Schule. Ehefrau Yamilet verkaufte den Fernseher, um Geld für Lebensmittel zu bekommen. Als sie von dem Zug der Migranten Richtung USA hörten, entschieden sie, sich ihm anzuschliessen.

Sie packten das Nötigste zusammen und machten sich auf den Weg. Das erste Stück fuhren sie noch mit dem Bus. Sieben Stunden gingen sie später zu Fuss durch Guatemala bis zur mexikanischen Grenze. Sie gerieten in einen Wolkenbruch, wurden völlig durchnässt. Ein Mitarbeiter der Einwanderungsbehörde in Guatemala gab ihnen ein Zelt, das in den folgenden zwei Wochen ihr Zuhause werden sollte.

Bis zu 230 Kinder waren zu einem Zeitpunkt mit der Migrantengruppe unterwegs, wie das Kinderhilfswerk Unicef schätzt. Für Familien ist die Reise besonders beschwerlich. Die Kinder werden in der sengenden Hitze oft krank oder verletzen sich.

Ein Rad des Kinderwagens beginnt zu wackeln, droht abzufallen. Espinar stoppt, befestigt es notdürftig mit einer Plastiktüte. «Meine Füsse tun weh», sagt Tifany, tritt ihre Croc-Sandalen weg und geht barfuss weiter. «Stück für Stück», sagt ihr Vater. «Wir müssen weiter.»

Eine Viertelstunde später wacht Eduardo auf, weint und klagt über Bauchschmerzen. Yamilet reibt ihm den Bauch und legt ihn zurück in den Kinderwagen. «Ich mag überhaupt nichts an dieser Reise», sagt Tifany. Was sie an Honduras vermisse? «Alles», sagt sie. Da richtet Eduardo sich in seinem Kinderwagen auf und sagt mit seinem dünnen, tränenerstickten Stimmchen: «Komm, lass uns weitergehen.»

100 Menschen im Lastwagen

Nach vier Stunden Fussmarsch erreicht die Familie einen Kontrollpunkt der mexikanischen Behörden. Sie machen eine Pause. Die Temperaturen liegen um sieben Uhr morgens bereits bei über 25 Grad. Hunderte Migranten stehen Schlange für Wasser und Sandwiches. Bewohner, die helfen wollen, haben das organisiert.

Yamilet beschliesst, dass es zu Fuss nicht mehr weitergeht. Sie findet einen Lastwagen, in dem noch Platz ist. Andere helfen, die Kinderwagen einzuladen. Einen mit Eduardo und noch zwei weitere. Mehr als 100 Menschen drängen sich auf der Ladefläche. Der Fahrer lässt die Hintertür offen, damit die Menschen nicht ersticken.

Zwei Stunden später werden sie in einem Vorort von Arriaga abgesetzt. Eine Stunde später erreichen sie den Hauptplatz der mexikanischen Stadt. Auf einem Spielplatz schlagen sie ihr Zelt auf. Es ist mittlerweile 40 Grad heiss. Völlig erschöpft schlafen sie drei Stunden.

Espinar beharrt darauf, dass Amerika all die Strapazen wert sein werde. Er hat gehört, dass Trump die Asylregeln für Menschen aus Mittelamerika verschärft hat. Er hat auch von den Soldaten gehört, die Trump geschickt hat. Er will trotzdem versuchen, Asyl zu bekommen. «Ich habe irgendwie Angst davor, was passieren wird, wenn wir die US-Grenze erreichen», sagt er. Aber zurück nach Honduras würden sie nicht gehen.

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