«Ich frage mich, warum ich überhaupt noch da bin»750'000 Senioren sterben in Frankreich gerade den sozialen Tod
Gregoire Galley
30.9.2025
Die extreme Einsamkeit älterer Menschen hat in acht Jahren um 150% zugenommen (Bild zur Veranschaulichung).
Hauke-Christian Dittrich/dpa
Hunderttausende ältere Menschen in Frankreich leben in absoluter Isolation. Eine neue Studie zeigt, wie dramatisch sich die Einsamkeit unter Senioren seit der Pandemie verschärft hat – und warum soziale Armut zum «stillen Tod» führt.
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Nicolas Barman, Agence France-Presse
30.09.2025, 08:19
06.10.2025, 17:33
Gregoire Galley
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Rund 750’000 Senioren in Frankreich leben laut Studie völlig isoliert.
Die extreme Einsamkeit unter älteren Menschen hat in acht Jahren um 150 Prozent zugenommen.
Experten warnen: Fehlende soziale Bindungen erhöhen das Risiko für Depressionen und Suizid.
«Ich habe das Gefühl, nutzlos zu sein. Ich frage mich, warum ich auf der Erde bin», sagt Michelle S., 83 Jahre alt. Die ehemalige Ausbilderin eines multinationalen Unternehmens lebt allein in einer Pariser Vorstadt – ohne Kinder, ohne Familie, mit nur noch zwei flüchtigen Kontakten im Monat. Wenn die Tage zu lang werden, greift sie zum Alkohol.
Mit ihrer Verzweiflung steht sie nicht allein da. Laut einer neuen Studie der Organisation Les Petits Frères des Pauvres sind in Frankreich derzeit rund 750’000 Senioren vom sogenannten sozialen Tod betroffen – Menschen, die praktisch nie jemanden sehen oder sprechen.
Das entspricht vier Prozent der 18 Millionen über 60-Jährigen. Im Vergleich zu 2017 hat sich die Zahl der sozial völlig isolierten Personen mehr als verdoppelt. Besonders alarmierend: Seit dem letzten Barometer aus dem Covid-Jahr 2021 ist sie nochmals um 42 Prozent gestiegen.
Die Pandemie habe viele ältere Menschen aus ihren Lebensgewohnheiten gerissen, sagt Isabelle Sénécal, Leiterin der Abteilung Anwaltschaft der Organisation. «Die Schwächsten haben nach der Isolation während der Lockdowns nie mehr zu ihren alten sozialen Kontakten zurückgefunden.»
Der Kampf gegen den «stillen Tod»
Heute leben zwei Millionen Senioren ohne Kontakt zu Familie oder Freunden – doppelt so viele wie noch vor acht Jahren. Etwa 1,5 Millionen sehen ihre Kinder und Enkel «nie oder fast nie».
Mit zunehmendem Alter verschärft sich das Problem: Um die 80 Jahre verlieren viele ihre Partner und Freunde, sie gehen seltener aus, fahren kein Auto mehr. Besonders in ländlichen Gebieten entstehen sogenannte «kommerzielle Wüsten» – Orte ohne Geschäfte, Treffpunkte oder Vereine.
Der Mangel an sozialer Bindung wirkt sich dramatisch auf die Gesundheit aus. Laut dem französischen Gesundheitsministerium ist die Selbstmordrate unter 85- bis 94-Jährigen doppelt so hoch wie im Rest der Bevölkerung. Viele Betroffene leiden an Depressionen, Angstzuständen oder körperlichem Verfall.
Daniel L., 77, verlor seine Frau während der Pandemie. «Meine Freunde sind krank, meine Schwester lebt weit weg. Ich sehe niemanden mehr», erzählt er. Seine Tage bestehen aus Fernsehen und kurzen Spaziergängen, «manchmal rede ich mit mir selbst, nur um eine Stimme zu hören».
Einsamkeit als europäisches Problem
Die Organisation Les Petits Frères des Pauvres und das Netzwerk Monalisa, das über 600 Vereine und 1000 Bürgerteams umfasst, versuchen gegenzusteuern. Freiwillige besuchen ältere Menschen, begleiten sie bei Arztterminen oder organisieren kleine Nachbarschaftstreffen.
«Wenn man sich nur auf Fachkräfte verlässt, brennen sie aus», sagt Boris Callen, Generaldelegierter von Monalisa. «Wir brauchen ein bürgernahes Netzwerk, das Nähe und Menschlichkeit in den Alltag bringt.»
Doch die Lage bleibt prekär. Die Zahl der Vereinsaktivitäten schrumpft, weil die staatliche Unterstützung fehlt. Die Forscher warnen: Mit dem Geburtenrückgang wird die soziale Isolation weiter zunehmen – schlicht, weil weniger Angehörige da sein werden.
Auch in der Schweiz und in Deutschland wächst die soziale Vereinsamung älterer Menschen – wenn auch weniger drastisch als in Frankreich. Laut dem Schweizer Bundesamt für Statistik fühlen sich rund ein Drittel der über 75-Jährigen einsam, Tendenz steigend.
Während viele europäische Länder in Altersheime investieren, fordern französische Sozialforscher einen grundlegenden Wandel: «Wir müssen das Alter wieder als Teil des gesellschaftlichen Lebens verstehen», sagt Sénécal. «Sonst wird Einsamkeit zur nächsten grossen Gesundheitskrise.»