Obdachlose in den USA Sie haben einen Job – und leben im Auto

mmi

19.10.2023

Ein Van steht auf einer Strasse in Seattle. In der amerikanischen Stadt gibt es immer mehr Berufstätige, die in ihrem Auto leben müssen – so wie im ganzen Land. 
Ein Van steht auf einer Strasse in Seattle. In der amerikanischen Stadt gibt es immer mehr Berufstätige, die in ihrem Auto leben müssen – so wie im ganzen Land. 
Keystone

In den USA werden landesweit Parkplätze für Berufstätige eröffnet. Die mobilen Obdachlosen leben in ihren Fahrzeugen, weil sie sich zwar ein Auto, aber keine Miete mehr leisten können. 

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • In den USA werden mehr und mehr Parkplätze für Menschen eröffnet, um dort ihr Auto sicher parkieren und darin leben zu können.
  • Die sogenannten mobilen Obdachlosen sind meist berufstätig. Und sie verdienen gerade soviel, dass sie vom Staat keine Unterstützung kriegen, sich aber auch durch gestiegene Lebenshaltungskosten die Wohnung nicht mehr leisten können.
  • Die Notlösung: Das Leben im Auto.

Chrystal Audet versucht, es sich in ihrem «Schlafzimmer» bequem zu machen – auf dem Rücksitz ihres acht Jahre alten Ford Fusion. Um die Beine strecken zu können, muss sie die Beifahrertür einen Spalt offenlassen. Aber die September-Nächte im US-Bundesstaat Washington, nahe der Grenze Kanada, sind rau, der Regen durchdringt die Haut bis auf die Knochen.

Cierra (26) bittet deshalb ihre Mutter, die Türe zu schliessen, bevor sie sich in ihrem «Schlafzimmer», das der Vordersitz ist, vor Kälte die Decke über den Kopf zieht. Bevor die College-Studentin einschläft, murmelt sie: «Wir müssen hier raus.»

Eine Rechnung zu viel

Christal Audet erzählt der «New York Times» erstmals ihre Geschichte. Die 49-jährige Sozialarbeiterin arbeitet Vollzeit beim Sozial- und Gesundheitsamt des Bundesstaats Washington. Dafür verdient sie pro Jahr über 72'000 Dollar.

Doch als letzten Dezember ihr Auto den Geist aufgab, begann Audets freier Fall in untragbare Schulden. Wegen eines vor über zwanzig Jahren ausgestellten Schecks, der in ihren Akten vermerkt wurde, konnte Audet ihr Auto nur mit einem hohen Reparatur-Zins flicken lassen. Der 2015er Ford Fusion mit 100'000 Kilometern kostete Audet pro Monat fortan zusätzliche 398 Dollar. Hinzu kamen die Arztrechnungen für ihre Cohn-Krankheit. Als der Vermieter ihr mitteilte, dass die Miete für ihre Wohnung um fast 300 Dollar pro Monat ansteigen werde, war ihr monatliches Nettoeinkommen bereits aufgebraucht.

«Es war eine Rechnung zu viel», sagt die 49-Jährige.

Audet drohte die Zwangsräumung und so brachte sie ihre Möbel in Frühjahr 2023 in ein Lager. Von da an parkte sie mit ihrer Tochter im reparierten Auto auf einem Parkplatz vor der Kirche in Kirkland. Der Ford Fusion wurde zu ihrem Zuhause, das Dach wurde zum Esstisch, der Kofferraum zum Kleiderschrank.

Mobile Obdachlose

Im ganzen Land werden für Menschen wie Audet Grundstücke in Form von Parkplätzen zur Verfügung gestellt. In den letzten fünf Jahren wurden Dutzende solcher Parkplätze eröffnet, und alle paar Monate werden neue angekündigt. Sie durchziehen den pazifischen Nordwesten und bieten einen sicheren Hafen für eine wachsende Gruppe von arbeitenden Amerikanern, die in der unversöhnlichen Mitte eingezwängt sind: Sie verdienen zu wenig, um sich eine Miete leisten zu können, aber zu viel, um staatliche Unterstützung zu erhalten. Deshalb verwandeln sie ihre Autos in eine Art «erschwinglichen Wohnraum».

Die Idee, Parkplätze für Obdachlose einzurichten, ist nicht neu. Der erste bekannte Parkplatz wurde 2004 im Schatten der Villen von Santa Barbara eröffnet. Das Konzept konnte sich erst nach einiger Zeit landesweit durchsetzen.

In vielen Städten machen die «mobilen Obdachlosen» inzwischen die Mehrheit der obdachlosen Bevölkerung aus – in King County, Washington, wo Frau Audet lebt, machen die Menschen, die in Fahrzeugen leben, etwa 53 Prozent aus. In San Mateo, einem Bezirk an den zerklüfteten nördlichen Klippen Kaliforniens, befinden sich etwa 45 Prozent in der gleichen Lage. In Los Angeles liegt die Zahl bei fast 60 Prozent.

Viele von ihnen haben Arbeit: In Denver verdient Anfang des Jahres 135 der 217 «mobilen Obdachlosen» durchschnittlich 1581 Dollar im Monat. Ein-Zimmer-Wohnungen kosten dort durchschnittlich 1655 Dollar.

Happy End?

Dass Audet an ihrem Auto festhalten konnte, ermöglichte ihr, einen Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten. Fast niemand kannte ihr Geheimnis.

Jeden Morgen benutzte sie für die Morgentoilette einen Eimer, um sich für die Arbeit fertig zu machen, und pendelte dann zum Büro des Sozial- und Gesundheitsamtes in der Innenstadt von Seattle. Dort sitzt sie hinter einer Plexiglaswand, wo sie die ärmsten Bewohner der Stadt berät. Durch ihre Arbeit wusste Audet auch, dass sie zu viel verdient, um selbst Hilfe vom Staat zu bekommen. So versuchte sie, als Essenskurierin etwas Geld dazuzuverdienen.

Zwischen zwei Jobs und der Suche auf dem Kirchenparkplatz und in der öffentlichen Dusche fand Frau Audet Zeit für die Wohnungssuche. Doch ihre schlechte Kreditwürdigkeit machte ihr immer wieder einen Strich durch die Rechnung.

Erst als Wohnbauaktivisten bemerkten, dass ein Reporter der «New York Times» über Audets Geschichte berichtet, änderte sich Audets Situation zum Besseren. Sie wurde zu Wohnungsbesichtigungen eingeladen, und als sie endlich eine Zusage für eine Wohnung erhielt, sprang die Kirche mit 2000 Dollar für die Mietzinsanzahlung ein.

Frau Audet und ihre Tochter sind am 23. September eingezogen.