Schweizer Rabbiner«Ich war zufällig vor zwei Wochen an diesem Ort»
Von Andreas Fischer
30.4.2021
Mindestens 45 Menschen sind bei einer Massenpanik auf einem grossen jüdischen Fest im Norden Israels ums Leben gekommen. Ein Schweizer Rabbiner erklärt, warum der Grossanlass aus dem Ruder laufen konnte.
Von Andreas Fischer
30.04.2021, 18:10
Von Andreas Fischer
Es ist das erste grosse Massenfest in Israel seit Beginn der Corona-Pandemie. Umso ausgelassener feiern tiefreligiöse Juden das Fest Lag Baomer in Meron. In der Nacht kommt es zur Katastrophe.
Zehntausende sind am Donnerstag in den Norden des Landes gereist, um im Wallfahrtsort Meron zu feiern. Die Stimmung ist ausgelassen, in sozialen Netzwerken finden sich zahlreiche Videos des Abends. Eine riesige Menschenmenge ist dort zu sehen, die ausgelassen feiert, tanzt und herumspringt.
Doch tief in der Nacht bricht plötzlich eine Massenpanik aus, bei der mindestens 45 Menschen sterben, darunter auch Kinder. Dutzende weitere erleiden teils schwerste Verletzungen.
Jüdische Gemeinde in der Schweiz trauert
Die jüdische Gemeinde in der Schweiz ist erschüttert. «Wir sind sehr betroffen, dass es beim Berg Meron zu einem so tragischen Unglück gekommen ist. Wir trauern um die Toten und unser Mitgefühl und unsere Gedanken sind bei den Verletzten und den Angehörigen», teilt Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds SIG, mit.
Auch Schweizer seien vor Ort gewesen, berichtet etwa der «Blick». Ob auch Schweizer Staatsangehörige unter den Opfern sind, konnte gemäss Eidgenössischem Departement für äussere Angelegenheiten (EDA) noch nicht geklärt werden. Das EDA stehe diesbezüglich mit den Behörden vor Ort in Kontakt. Bei der israelitischen Religionsgesellschaft in Zürich weiss man sicher von zwei Schweizer Familien, die extra wegen des Anlasses nach Israel gereist sind.
Anlass stark vom Mystischen geprägt
Besonders für ultraorthodoxe Juden hat der Festtag Lag Baomer eine grosse Bedeutung, weiss Dr. David Bollag, den «blue News» am Telefon erreicht. Bollag lebt in Israel und ist «als Teilzeit-Rabbiner», wie er selbst sagt, in der Israelitischen Cultusgemeinde in Zürich tätig; vor der Corona-Pandemie sei er eine Woche pro Monat in der Schweiz gewesen.
Bollag möchte zunächst die Grössenverhältnisse einordnen, die das Lag-Baomer-Fest in Meron hat: «Normalerweise kommen jährlich in den zwei oder drei Tagen etwa 250'000 Menschen an den Ort. Es ist also ein riesiger Anlass.» Dieses Jahr seien es, vor allem wegen Corona, «nur» 100'000 gewesen. «Ich habe einen Sohn, der in dieser Ortschaft wohnt. Wir waren zufällig vor zwei Wochen dort über Schabbat», erinnert sich der Rabbiner.
Am Grossanlass selbst war er allerdings noch nie. «Das ist nicht meine Schiene, der ganze Anlass ist stark vom Mystischen geprägt. Ich gehöre eher der Schule der Rationalisten an.» Der Einladung und den Bitten seines Sohnes, diesem Erlebnis einmal in persona beizuwohnen, habe er bisher widerstehen können.
Darum ist Lag Baomer so bedeutsam
Die Bedeutung des Festes speise sich aus einer Kombination verschiedener Dinge, erklärt er. «Erstens ist es das Todesdatum eines grossen Gelehrten des zweiten Jahrhunderts: Shimon bar Jochai wird zugeschrieben, das erste grosse bedeutende Werk der jüdischen Mystik verfasst zu haben – den Sohar.» Am Wallfahrtsort in Meron soll er begraben worden sein.
Bedeutend sei dieser Aspekt vor allem für die Chassiden, einer orthodoxen Strömung, die vor 300 Jahren entstanden ist. «Der allergrösste Teil der Menschen, die Lag Baomer in Meron feiern, gehören dieser Strömung an», sagt Bollag. Für sie sei die jüdische Mystik von grösster Bedeutung.
Der Tag ist nicht nur für die Chassiden wichtig: «Auch die zionistische Bewegung hat diesen Tag adoptiert, aber mit einer ganz anderen Bedeutung», erklärt Bollag. Nämlich, «indem ein Zusammenhang hergestellt wird mit der Bar-Kochba-Revolte gegen die Römer in den Jahren von 132 bis 135. Für die zionistische Bewegung ist die Komponente des Sich-Wehrens von zentraler Wichtigkeit.» Deswegen werden normalerweise an Tausenden Orten in Israel Feuer entfacht.
Streit zwischen Polizei und Religionsministerium
Auch in Meron brannten die Lagerfeuer, die zum Teil mitverantwortlich gewesen sein sollen für die Katastrophe, wie «Der Spiegel» unter Berufung auf israelische Medien berichtet. Sie hätten die Platzverhältnisse zusätzlich beengt.
Für 10'000 Menschen war die Veranstaltung in diesem Jahr zugelassen. Gekommen sind zehnmal so viele. «Das Gesundheitsministerium war an der Beschränkung interessiert», weiss Bollag. «Doch dann ist ein Streit zwischen der Polizei und dem Religionsministerium entbrannt, wer denn dafür verantwortlich ist, diesen Entscheid in die Praxis umzusetzen.» Weil sie sich nicht einig wurden, sei der Entscheid nicht umgesetzt worden.
Solche Situationen kämen laut Bollag in Israel «leider hin und wieder vor». Im Moment erschwert der Umstand, dass es keine funktionierende Regierung gibt, die Lage. «Politisch gesehen ist Israel in einer schwierigen Situation. Im Moment ist eine Übergangsregierung an der Macht – sie hat weder von der juristischen noch von der politischen Seite her Macht, Möglichkeit und Interesse, sich durchzusetzen.»
Unmöglich, die Auflagen durchzusetzen
Kommt hinzu, dass die Ultraorthodoxen dem Staat gegenüber generell «skeptisch eingestellt» sind, wie es Bollag ausdrückt. «Der Streit ist sicher auch deshalb entstanden, weil sowohl Polizei als auch Religionsministerium genau wussten, dass es unmöglich wird, die Auflagen durchzusetzen.»
Die coronabedingte Totalabsage des Anlasses im vergangenen Jahr habe sich nur mit einem riesigen polizeilichen Aufwand durchsetzen lassen. Das wiederum habe etwas zu tun mit der «Autonomie» der Ultraorthodoxen, die den ganzen Komplex unter Kontrolle haben und sich nicht gern vom Staat dreinreden lassen.
«In den vergangenen Jahren ist immer wieder davor gewarnt worden, auch nach Untersuchungen der Regierung selbst, dass bei diesem Anlass ein derartiges Unglück geschehen könne», sagt Bollag. «In Israel ist es besonders ausgeprägt, dass erst etwas Schreckliches geschehen muss, bevor man merkt, dass man etwas verändern muss.»