Geflohene Ukrainerin berichtet«Ich wollte nicht, dass mein Baby im Bunker zur Welt kommt»
Von Gil Bieler
22.10.2022
Mit einem Baby ins Kriegsgebiet reisen? Was unvorstellbar klingt, ist etwas, worüber sich Ukrainerinnen ernsthaft Gedanken machen müssen. Das zeigt das Schicksal der 35-jährigen Ivanna, die nach Polen geflohen ist.
Von Gil Bieler
22.10.2022, 00:00
22.10.2022, 15:33
Gil Bieler
Sie wohnt in Lwiw, ganz im Westen der Ukraine, als im Februar die russischen Truppen ihre Invasion beginnen. Da dämmert es auch Ivanna*: «Niemand ist mehr sicher», wie sie damals zu blue News sagte.
Die junge Frau harrt dennoch aus. Erst im April entscheidet sie sich, nach Polen zu fliehen. Der Grund: Sie ist hochschwanger. «Niemand wusste, wie sich die Situation entwickeln würde», sagt die 35-Jährige, «und ich wollte nicht, dass mein Kind in einem Schutzbunker zur Welt kommt.»
Heute lebt Ivanna in Danzig, rund 850 Kilometer von daheim entfernt. Sie wollte nicht im polnischen Grenzgebiet bleiben, da sich dort bereits zu viele Vertriebene niedergelassen hätten. Sie fand keine Unterkunft. Und: «Ich wollte in eine Stadt, um sicherzugehen, dass es eine gute Gesundheitsversorgung für mein Kind gibt. Für alle Fälle.»
Das Töchterchen ist mittlerweile fast vier Monate alt und heisst Justyna.
Der Vater darf nicht weg
Ivanna arbeitet schon wieder, sie braucht dafür nur einen Laptop und Internet. Ihre Mutter, die mit ihr geflohen ist, hilft mit dem Baby. Drei Generationen haben sich so in einer kleinen Mietwohnung eingerichtet. Nur der Vater der Kleinen ist noch immer in der Ukraine. Weil: «Männer unter 60 Jahren dürfen die Ukraine nicht verlassen», erklärt Ivanna. Er könnte jederzeit für den Kriegsdienst eingezogen werden.
Seine Tochter hat er noch nie gesehen – nur am Bildschirm. «Wir telefonieren jeden Tag», sagt Ivanna. «Ich vermisse ihn sehr. Wir möchten wirklich gern zurück nach Hause gehen, aber die Situation ist im Moment nicht sicher.»
Ivanna denkt dabei nicht nur an Raketen- und Drohnenbeschuss, den die russischen Truppen in den letzten Wochen intensiviert haben, sondern an die Versorgungssicherheit: «Die Russen haben ihre Taktik geändert. Sie wollen alle Anlagen zerstören, die für die Strom- oder Wärmeversorgung benötigt werden.» Eine solche Entwicklung beklagt seit einiger Zeit auch die ukrainische Regierung.
Hätte sie kein Kind, würde sie sofort zurück nach Lwiw reisen, sagt Ivanna. Aber so? Eine schwierige Entscheidung. Fällt der Strom aus, wird es stockdunkel – und kalt, wenn es die Heizung trifft. Für Ivanna selbst wäre das ja kein Problem, aber als Mutter macht sie sich ganz andere Gedanken. «Was ist, wenn es Luftalarm gibt? Mit einem Baby in den Schutzkeller zu fliehen, ist nicht so leicht.» Es müsse schnell gehen – und ein schreiendes Kind möchte sie den Leuten in einem voll besetzten Bunker nicht zumuten.
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Sehnsucht nach der Heimat
Wenigstens ein Besuch beim Kindsvater, um zu sehen, wie die Situation ist – klingt verlockend, aber leichtfertig reist es sich mit einem viermonatigen Baby nicht: Die Autofahrt von Danzig nach Lwiw dauert fast zehn Stunden. Kommt hinzu: Was, wenn sie unverhofft in Lwiw feststecken – weil eine Flucht zu riskant wäre? Daraus ergäben sich ganz neue Probleme, erklärt Ivanna. Sie habe in Polen temporäres Bleibe- und Arbeitsrecht, sagt Ivanna. Unter Umständen könnte sie diesen Status aber verlieren, sollte sie zu lange in der Ukraine feststecken. «In der Theorie könnte ich in die Ukraine zurückreisen, aber in der Realität gibt es da sehr viele Probleme.»
Die Sehnsucht, in ihr Daheim zu ihrem Partner zu reisen, und der Wunsch, ihre Tochter in Sicherheit zu wissen: In Ivannas Brust schlagen zwei Herzen. Noch hat sich die junge Mutter nicht entschieden, wo sie den Winter verbringen wird. Doch die Zeit drängt: Die Wohnung in Danzig ist nur bis Ende November gemietet – wenn sie verlängern will, muss sie das jetzt anmelden.
Ihre Hoffnung setzt sie in die westlichen Waffenlieferungen. Dass diese die Situation in der Ukraine so weit verbessern, dass es wieder sicher wäre. Für sie und ihre Tochter.