Nach 100 Tagen Krieg beschwört der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Moral seiner Landsleute, muss aber auch Erfolge der russischen Truppen eingestehen. Der Krieg verändert die gesamte Welt.
Es ist ein tragischer Meilenstein: Seit nunmehr 100 Tagen tobt an diesem Freitag der von Russland entfesselte Angriffskrieg in der Ukraine. Und die Bilanz für die Truppen von Kreml-Herr Wladimir Putin verbessert sich zunehmend. Zwar erwies sich der erhoffte rasche Erfolg als Wunschdenken, dennoch kommen die russischen Truppen langsam, aber stetig voran.
Mittlerweile seien rund 20 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets unter russischer Kontrolle, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag. Bereits vor dem Einmarsch vom 24. Februar seien es gut 43'000 Quadratkilometer gewesen, mittlerweile hätten sie fast 125'000 Quadratkilometer erobert.
Derzeit wehren sich ukrainische Truppen weiter gegen den Verlust der Grossstadt Sjewjerodonezk im Osten, in der russische Truppen mit ihrer überlegenen Feuerkraft vorrücken. Die Stadt solle möglichst nicht aufgegeben werden, sagte Vize-Generalstabschef Olexij Hromow.
Tote und Verletzte mit jedem Kriegstag
Selenskyj zog bei mehreren Auftritten eine Art Bilanz des Krieges. Bei den Kämpfen im Osten würden täglich bis zu 100 ukrainische Soldaten getötet, sagte er an einer Sicherheitskonferenz in der slowakischen Hauptstadt Bratislava, zu der er per Videocall zugeschaltet war. «Und ein paar Hundert Menschen – 450, 500 Menschen – werden jeden Tag verletzt.» Er dankte den Partnern im Ausland für Waffenlieferungen.
Doch auch Putin kann keine triumphale Bilanz ziehen. Er hatte das Nachbarland laut eigenen Aussagen angreifen lassen, um dessen Ambitionen auf einen Nato-Beitritt zu stoppen. Die russische Kriegspropaganda behauptet, die Ukraine werde von Neonazis geführt, russischsprachige Menschen würden dort unterdrückt. Doch mit seinem Angriffskrieg hat Putin die Militärallianz nur noch gestärkt. Schweden und Finnland wollen demnächst beitreten, was die Nato noch näher an russische Landesgrenzen rückt.
Als ein Kriegsziel Putins wird immer wieder die komplette Eroberung der ostukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk, des sogenannten Donbass, genannt. Das ist bisher nicht gelungen.
EU schnürt weiteres Sanktionspaket
Der Krieg hat Folgen weit über die Region hinaus. Die EU will am 100. Kriegstag ihr sechstes Sanktionspaket gegen Russland mit einem Ölembargo förmlich beschliessen. Auf Druck aus Ungarn strichen die EU-Staaten in letzter Minute den russisch-orthodoxen Patriarchen Kirill von der Strafliste. Nach über drei Monaten Krieg tun sich auch zwischen den bisher so geschlossen agierenden EU-Staaten Risse auf.
In der Schweiz trat der Krieg eine Debatte um die Neutralität los und führte zu einer massiven Aufrüstung der Armee. So hat der Ständerat gerade am Donnerstag eine massive Erhöhung der Verteidigungsausgaben besiegelt: So soll der Plafond für die Armeeausgaben 2023 um 300 Millionen Franken erhöht werden, ab 2024 sollen sie jährlich schrittweise so angehoben werden, dass sie 2030 ein Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) ausmachen – was rund sieben Milliarden Franken pro Jahr ausmacht.
Nicht zuletzt bedroht der Krieg auch die globale Nahrungsmittelversorgung. In Moskau bemühen sich Spitzenpolitiker der Afrikanischen Union am heutigen Freitag darum, bei Präsident Putin ein Ende der Blockade ukrainischer Getreideexporte zu erreichen. Sie fordern wegen der Hungerkrise in Afrika die Öffnung der ukrainischen Häfen.
Verteidigungsministerin: «Unser Widerstand ist ungebrochen»
Die russischen Truppen seien in 3620 Ortschaften der Ukraine einmarschiert, 1017 davon seien wieder von ukrainischen Truppen zurückerobert worden, sagte Selenskyj. «Weitere 2603 werden noch befreit werden.»
Zwölf Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer seien im Land auf der Flucht, fünf Millionen im Ausland. Über 55'0000 von ihnen haben in der Schweiz mittlerweile den Schutzstatus S beantragt.
«Unser Widerstand ist nach all den Monaten ungebrochen. Der Feind hat seine selbst gesteckten Ziele nicht erreicht», sagte auch die Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar. «Wir sind bereit für einen Langzeitkrieg.»
Sie lobte, dass die «Dynamik der Waffenlieferungen» aus dem Westen an Fahrt aufnehme. Aus taktischen Überlegungen machte sie keine Angaben zu Zeitpunkt und Ort der Lieferungen. Die Ukraine will mit den schweren Waffen unter anderem aus den USA und aus Deutschland den Vormarsch der russischen Truppen aufhalten und besetzte Städte befreien. Selenskyj dankte vor allem für die Zusage der USA, hochmoderne Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars zu schicken.
Russland habe über 30'000 Soldaten verloren, behauptete Selenskyj. Auch westliche Expert*innen vermuten zwar schwere russische Verluste, halten diese Zahlen aber für zu hoch.
Ukraine gibt Sjewjerodonezk noch nicht verloren
Das ukrainische Militär hält nach eigenen Angaben weiter Stellungen in der schwer umkämpften Grossstadt Sjewjerodonezk, dem Verwaltungszentrum der Region Luhansk im Osten der Ukraine. «Im Zentrum von Sjewjerodonezk halten die Kämpfe an», teilte der ukrainische Generalstab in seinem neuesten Lagebericht mit.
Der Feind beschiesse die ukrainischen Stellungen in der Stadt, in den Vororten Boriwsk und Ustyniwka sowie in der Zwillingsstadt Lyssytschansk, die mit Sjewjerodonezk einen Ballungsraum bildet.
Zudem berichtete der Generalstab von Luftangriffen auf die Ortschaft Myrna Dolyna und erfolglosen Erstürmungsversuchen der städtischen Siedlungen Metjolkine und Bilohoriwka in unmittelbarer Nähe von Sjewjerodonezk. Auch der Versuch, durch Angriffe im Raum Bachmut den Ballungsraum weiter westlich von den Versorgungslinien abzuschneiden, ist nach Angaben aus Kiew bislang gescheitert.
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In Richtung Slowjansk, Teil eines Ballungsraums im Gebiet Donezk mit etwa einer halben Million Einwohner*innen, kommen die russischen Angriffe ebenfalls nur langsam voran. Von Lyman aus seien Sturmversuche unternommen worden, die Kämpfe hielten an, teilte der Generalstab mit. Angriffe von Norden aus seien unter hohen feindlichen Verlusten abgewehrt worden.
An anderen Frontabschnitten gibt es aufgrund der russischen Konzentration auf Sjewjerodonezk keine aktiven Bodenoffensiven. Allerdings ist vielerorts die russische Artillerie im Einsatz, teilweise auch die Luftwaffe.
Wird der Krieg noch lange dauern?
Gab es in den ersten Kriegswochen noch Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew, liegen diese spätestens seit den Gräueltaten an der Zivilbevölkerung in Butscha und anderen Orten bei Kiew auf Eis. Selenskyj will erst wieder verhandeln, wenn Russland sich auf die Grenzen vom 23. Februar zurückzieht.
«Kriege sind von Natur aus unberechenbar», sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg nach einem Treffen mit US-Präsident Joe Biden und dessen Nationalem Sicherheitsberater Jake Sullivan in Washington. «Deshalb müssen wir uns einfach auf eine lange Strecke einstellen.» Der Konflikt sei zu einem Zermürbungskrieg geworden, in dem beide Seiten einen hohen Preis auf dem Schlachtfeld bezahlten.
Die meisten Kriege endeten am Verhandlungstisch. Das werde vermutlich auch in diesem Fall passieren, sagte Stoltenberg. Aufgabe der Nato-Verbündeten sei es, die Ukraine zu unterstützen, um den bestmöglichen Ausgang für das Land zu erreichen.
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DPA, gbi