BagdadSchiitenführer stachelt in Sadr City Tausende zu Protesten an
Von Samya Kullab, AP
7.8.2022
Die politische Lage im Irak ist angespannt: Nach dem gescheiterten Versuch des Geistlichen Muktada al-Sadr, eine Regierung zu bilden, stürmten dessen Anhänger das Parlament. Beobachter werten dies als Machtdemonstration – und als grosse Gefahr für die Stabilität im Land.
Von Samya Kullab, AP
07.08.2022, 00:00
Von Samya Kullab, AP
Die vier Söhne von Chalil Ibrahim sind Teil der Bewegung, die den Irak gerade in eine neue Phase der Ungewissheit gestürzt hat. Nicht nur der Vater unterstützt sie dabei. Praktisch alle seine Nachbarn in Sadr City tun es ebenfalls. Der riesige Stadtteil im Nordosten von Bagdad ist die Machtbasis von Muktada al-Sadr. Der Zuspruch für ihn scheint unter den etwa 2,5 Millionen überwiegend verarmtem schiitischen Einwohnern kaum Grenzen zu kennen.
In jedem Haus gebe es jemanden, der sich an den Aktionen beteilige, sagt der 70-jährige Ibrahim der Nachrichtenagentur AP. Es ist nicht das erste Mal in der jüngeren Geschichte des Landes, dass Aufrufe des radikalen Geistlichen zu derart grossen Protesten führen, dass politische Prozesse zum Erliegen kommen. Aber «dieses Mal wissen wir, dass sich etwas verändern wird. Dessen sind wir uns sicher», betont Ibrahim.
Hingabe aus Armut
So wie er bekunden viele Menschen in Sadr City eine fast bedingungslose Hingabe für den Geistlichen. Korruptionsvorwürfe gegen ihn und seine Bewegung weisen sie zurück. Neben religiöser Rhetorik ist es auch das Versprechen, die Lebensbedingungen in dem vernachlässigten Stadtteil zu verbessern, das ihm seit vielen Jahren eine solche Unterstützung verschafft.
Die meisten Bewohner dieses Dschungels aus Beton, mit denen die AP bei Recherchen vor Ort spricht, haben keinen Schulabschluss. Die wenigen, die einen haben, finden trotzdem keinen Job. Fast alle klagen über eine unzureichende Grundversorgung, auch im Hinblick auf Elektrizität – und das bei Temperaturen, die in dieser Woche auf mehr als 50 Grad Celsius stiegen.
Erfolglose Regierungsbildung des Schiitenführers
Am Samstag hatten Anhänger des Schiitenführers zum zweiten Mal innerhalb von einer Woche das irakische Parlament gestürmt. Sie zogen sich zwar wieder zurück, begannen dann aber mit einem Sitzstreik vor dem Gebäude. Am Freitag folgten erneut Hunderttausende seinem Aufruf und versammelten sich zu einem Massengebet in der stark befestigten Grünen Zone Bagdads.
Ihr erklärtes Ziel ist es, eine Regierungsbildung durch politische Rivalen des Geistlichen zu verhindern. Bei den Wahlen im vergangenen Herbst hatte die Partei von Al-Sadr die meisten Stimmen erhalten. Es gelang ihm aber dennoch nicht, eine Mehrheitsregierung zu bilden.
Die aktuellen Proteste dürften damit eine seit mittlerweile zehn Monaten anhaltende Phase des politischen Stillstands weiter verlängern. Doch nicht nur das. Experten warnen, dass der auf diese Art eskalierte Machtkampf die relative Stabilität in dem zerstrittenen Land untergraben könnte.
Stadtteil des sozialen Widerstands
Al-Sadr verbindet Aufrufe an seine Anhänger oft mit Anspielungen auf die Opfer von Imam Hussein, einer zentralen Figur im schiitischen Glauben. Zugleich profitiert er von der langen Geschichte des nach seinem Vater benannten Stadtteils als ein Ort des sozialen Widerstands, in dem das Gefühl, von den Mächtigen im Land unterdrückt zu werden, tief verankert ist.
Gegründet wurde der Stadtteil kurz nach dem Ende der Monarchie im Irak 1958. Er hiess zunächst «Stadt der Revolution» und diente unter anderem zur Ansiedlung von Migranten aus dem Süden des Landes. Viele von ihnen waren gewaltsam vertrieben worden und verarmt. Die Zahl der Einwohner wuchs. Diverse Versprechen, für eine bessere Entwicklung des Viertels zu sorgen, wurden aber nie eingelöst.
Mit der Zeit wurde der Stadtteil zur Heimat einer urbanen Unterschicht, die von der übrigen Gesellschaft Bagdads weitgehend abgetrennt war. Unter Saddam Hussein entwickelte er sich zugleich zu einem Zentrum des schiitischen Widerstands. Nach der von den USA angeführten Invasion im Jahr 2003 konnte Al-Sadr schnell seinen Einfluss in dem Gebiet festigen.
Netzwerk des Geistlichen längst auf Regierungsebene
In einer Rede am Mittwoch wies der Geistliche seine Anhänger an, die Sitzblockade fortzusetzen und forderte Neuwahlen, die Auflösung des Parlaments und Änderungen an der Verfassung. Im Haushalt des 70-jährigen Ibrahim sind die Ansprüche einfacher – und eher praktischer Natur: Die Mitglieder der Familie hätten gerne ein eigenes Haus und vor allem Arbeit. Die vier Söhne haben alle nur unregelmässige Tagelöhnerjobs. Keines der Kinder hat eine über die Grundschule hinausgehende Ausbildung. Fast alle Einnahmen fliessen in die Miete für das Haus, in dem sie mit zwölf Personen leben.
Wie lange sich Al-Sadr noch auf seine Anhängerschaft wird verlassen können, ist allerdings ungewiss. Aus der nationalen Wahl im Oktober ging seine Partei zwar als stärkste Kraft hervor. Aber die Gesamtzahl der Stimmen lag mit weniger als einer Million unter dem Niveau von vorherigen Wahlen.
Hinzu kommt, dass die Partei im Laufe der Jahre bereits an mehreren Regierungen beteiligt war, sich die Lebensbedingungen in Sadr City aber trotzdem kaum verbessert haben. Und während sich der Geistliche, dessen Vater Mohammed Sadek al-Sadr in den 90er Jahren während der Herrschaft von Saddam Hussein ermordet wurde, gern als Anführer der Entrechteten darstellt, ist er mit einem Netzwerk an Vertrauten längst fest in den Institutionen des Staates verankert.
«Sind wir nicht auch Menschen?»
In Sadr City nehmen viele Menschen den Schiitenführer dennoch gegen jede Kritik in Schutz. Die aktuellen Protestaktionen sind für viele Teilnehmer zudem eine Chance, der Monotonie eines von Armut geprägten Alltags zu entkommen. «Ich sah die grossen Gebäude, die prächtigen Räume und dachte: ‹Wie kann so etwas in der gleichen Stadt existieren, in der ich zu kämpfen habe?›», sagt der Gemüsehändler Mohammed Alaa, der am Samstag beim Sturm auf das Parlament dabei war. «Sind wir nicht auch Menschen?»
Auch die Anspielungen auf Imam Hussein scheinen anzukommen – gerade jetzt, kurz vor dem Aschura-Fest am Montag, mit dem an den Tod des Enkels des Propheten Mohammed erinnert wird. Auch im bescheidenen Wohnzimmer von Ibrahim hängt ein Porträt des Mannes. «Imam Hussein rief zu Reformen und Revolution auf. Und jetzt tun es auch unsere Anführer», sagt der 70-Jährige. In einer Rede am Samstag sagte Al-Sadr, er sei gegen Blutvergiessen. Aber «Reform wird nur durch Opfer erreicht», betonte er mit Verweis auf den Imam.