Indiens Corona-Katastrophe «Die Toten werden verbrannt, ohne dass sich die Angehörigen verabschieden können»

Von Sven Hauberg

21.5.2021

Wie hier in einem Vorort von Bangalore werden in Indien täglich Tausende Corona-Tote verbrannt.
Wie hier in einem Vorort von Bangalore werden in Indien täglich Tausende Corona-Tote verbrannt.
Bild: Keystone

In Indien wütet das Coronavirus weiter, jeden Tag sterben Tausende. «Die Regierung hat komplett versagt», erzählt ein junger Inder, der selbst infiziert war.

Von Sven Hauberg

21.5.2021

Für Bhargav Sama hätten es eigentlich die schönsten Tage im Leben werden sollen. Der 29-Jährige, der in Deutschland als Mechatroniker arbeitet, war vor wenigen Wochen in seine indische Heimat geflogen, um seine Verlobte zu heiraten. Stattdessen aber geriet er mitten hinein in die Corona-Katastrophe, die das Land seit Wochen fest im Griff hat.

«Ich glaube, es begann am Flughafen in Neu-Delhi», erzählt Sama im Skype-Gespräch mit «blue News». Acht Stunden hatte er hier Aufenthalt, bevor er weiterflog nach Hyderabad. Von der zentralindischen Millionen-Metropole aus hätte es anschliessend weitergehen sollen an den Golf von Bengalen, in seine Heimatstadt Kakinada. Doch schon in Hyderabad bemerkte Sama erste Symptome, spürte ein leichtes Fieber. Ein Test brachte die Gewissheit: Er hatte sich mit dem Coronavirus infiziert. Am Flughafen von Delhi, sagt er, hätten sich die Menschen im Terminal dicht an dich gedrängt, die Tische im Flughafen-Restaurant seien nicht sauber gewesen.



Sama begab sich in Isolation, nach einer Woche bekam er Husten und Halsschmerzen. «Ich ging ins Spital, doch man hat mich weggeschickt», sagt er. «Es hiess: ‹Nur wer weniger als 90 Prozent Sauerstoff im Blut hat, wird aufgenommen.›» Erst als auch bei ihm das Sauerstofflevel weiter fiel, kam er in die Notaufnahme. Eine Woche blieb er im Spital, mittlerweile ist er wieder genesen.

«Die Regierung hat komplett versagt»

Mehr als 276'000 Neuinfektionen binnen 24 Stunden meldete das indische Gesundheitsministerium zuletzt. Das ist zwar etwas weniger als vor ein paar Wochen. In Wahrheit aber, glauben Experten, dürften die Zahlen um ein Vielfaches höher liegen als offiziell gemeldet. Noch Anfang des Jahres hingegen sah es so aus, als sei Indien glimpflich durch die Krise gekommen. Doch im April schossen die Zahlen plötzlich nach oben, Indien war zum Corona-Hotspot der Welt geworden. 

Ein Grund für die extrem hohen Zahlen, die seitdem gemeldet werden, dürfte die Mutante sein, die in Indien aufgetreten ist. Vor allem aber war es die trügerische Sicherheit, in der sich viele wogen. Masken wurden noch im April nur selten getragen auf den Strassen, stattdessen feierten gläubige Hindus religiöse Massenfeste wie die Kumbh Mela, bei der vor einigen Wochen Hunderttausende Menschen zusammenkamen. Auch auf Wahlkampfveranstaltungen versammelten sich riesige Menschenmassen.

Bhargav Sama hat sich in seiner Heimat Indien mit dem Coronavirus infiziert.
Bhargav Sama hat sich in seiner Heimat Indien mit dem Coronavirus infiziert.
Bild: privat

«Die Regierung hat komplett versagt», glaubt Bhargav Sama. «Selbst als es 300'000 Fälle am Tag gab, haben sie keine Beschränkungen verhängt.» Zuletzt wurden die Massnahmen im Kampf gegen das Virus allerdings strenger. In seiner Heimatstadt Kakinada dürfe man nur noch von sechs Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags einkaufen, sagt Sama. Das habe allerdings zur Folge, dass sich die Menschen nun alle am Vormittag in den Geschäften drängen. «So werden die Zahlen sicher nicht sinken.»

Viele Infektionen, wenige Impfungen

Auch die Impfkampagne läuft schleppend. Wurden im April noch rund 4 Millionen Dosen am Tag gespritzt, fiel die Zahl zuletzt auf 1,2 Millionen. «Die Covid-Impfkurve nimmt viel schneller ab als die Kurve der Infektionen oder Todesopfer in Indien», schreibt die Epidemiologin Bhramar Mukherjee auf Twitter. Nur rund 3 Prozent der 1,3 Milliarden Inder gelten als vollständig geimpft. In der Schweiz sind es etwa fünfmal so viele.

Wer sich in Indien mit dem Virus infiziert und schwer erkrankt, braucht Connections, um ein Spitalbett zu bekommen, sagt Bhargav Sama. Das Krankenhaus in Hyderabad, in dem man ihn behandelt habe, sei eines der besten im ganzen Land. Ausreichend Behandlungskapazitäten habe es aber auch hier nicht gegeben. «Die Menschen haben vor dem Spital auf ein freies Bett gewartet, oft vergeblich», sagt er.

«Sie haben ihn einfach verbrannt»

Auch der Grossvater seiner Verlobten, ein Mann Anfang 70, infizierte sich mit dem Virus. Als es ihm schlechter ging, hätten sie versucht, ihn behandeln zu lassen. «Sie haben viele Spitäler und Freunde angerufen, die Einfluss haben, aber sie haben kein Bett mit Beatmungsgerät gefunden», erzählt Sama. «Nach ein paar Tagen war er tot.» Hätte man ihn an ein Beatmungsgerät angeschlossen, glaubt Sama, wäre der Grossvater seiner Verlobten heute wohl noch am Leben.



Nicht nur mit den vielen Erkrankten, auch mit den vielen Toten scheint Indien hoffnungslos überfordert. «Die Leichen werden verbrannt, ohne dass sich die Angehörigen verabschieden können», sagt Bhargav Sama. Auch vom Grossvater seiner Verlobten hätten sie nicht Abschied nehmen können, «sie haben ihn einfach verbrannt».

Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht. Erst am Mittwoch meldete das indische Gesundheitsministerium 4529 Todesfälle binnen eines Tages – weit mehr als jedes andere Land während der gesamten Pandemie.