«Vorreiter der Revolution» Irans Sportler und ihre Rolle im Protest

dpa / tchs

31.10.2022

Shoan Vaisi, ehemaliger Ringer und Politiker der deutschen Partei «Die Linke», glaubt, Sportler können im Iran viel bewirken.
Shoan Vaisi, ehemaliger Ringer und Politiker der deutschen Partei «Die Linke», glaubt, Sportler können im Iran viel bewirken.
Bild: Keystone

Iraner sind sportverrückt. Für Millionen Kinder und Jugendliche sind Fussballer, Ringer oder Gewichtheber Vorbilder. Das macht die Athleten zu Meinungsführern – auch in der Protestbewegung.

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Wenn Shoan Vaisi an seine Heimat Iran denkt, denkt er auch an Teamkollegen, die im Gefängnis sitzen. An Athleten, die seit Protestbeginn von der Sittenpolizei massiv bedroht werden. Und an die Mutigen unter ihnen, die «mit der Höchststrafe rechnen» und trotzdem Teil der Bewegung sind. «Wenn ich Sportler sehe, die sich kritisch äussern, geht mein Herz auf. Sportler können so viel bewirken, ihre Stimme zählt», sagte der frühere Ringer der Deutschen Presse-Agentur. Vaisi war bis zu seiner Flucht 2011 nach Deutschland Teil des iranischen Nationalteams.

Seit dem Tod der iranischen Kurdin Mahsa Amini protestieren Tausende gegen den repressiven Kurs der Regierung und das islamische Herrschaftssystem. Die Moralpolizei hatte die 22-Jährige festgenommen, weil sie gegen die Kleidungsvorschriften verstossen haben soll. Amini starb am 16. September in Polizeigewahrsam. Wut und Sehnsucht nach Veränderung treiben die Menschen auf die Strassen.

Unter ihnen viele Sportler. Ihre Solidarität sei «beispiellos», sagte der Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad. Es ist der Mut seiner ehemaliger Kollegen, der Vaisi Hoffnung macht. «Sie haben jahrelang für iranische Mannschaften gespielt, jahrelang iranische Familien glücklich gemacht». Der heutige Politiker der Linken glaubt, dass Sportler zu «Vorreitern der Revolution» werden können: «Zusammen mit der Jugend sind sie sowas wie Oppositionsführer».

Die Politik weiss um den Stellenwert der Sportler

Sportler geniessen im Iran extrem hohes Ansehen. Millionen Follower in den sozialen Netzwerken machen Fussballer oder Kampfsportler zu Meinungsführern. Ihr Einfluss auf die junge Generation ist riesig. Statistiken zufolge ist jeder dritte Iraner jünger als 24.

Die politische Führung weiss um den Stellenwert der Sportler innerhalb der iranischen Gesellschaft - und unterdrückt kritische Stimmen mit allen Mitteln. «Die hochrangigen Funktionäre der Verbände sind natürlich Leute, die nicht zufällig dort sind. Kriterium bei solchen Posten ist auch nicht die Qualifikation, sondern wie bei ähnlichen Positionen die Loyalität zum Regime», sagte Fathollah-Nejad.

Der Portuguese Carlos Queiroz (M.), Cheftrainer der iranischen Nationalmannschaft, beim Training in Teheran. (14. September 2022)
Der Portuguese Carlos Queiroz (M.), Cheftrainer der iranischen Nationalmannschaft, beim Training in Teheran. (14. September 2022)
Bild: Keystone/AP Photo/Vahid Salemi

Dass sich Nationalspieler vor der Fussball-WM mit Kritik zurückhalten, wundert den Experten nicht. Die Angst, aus dem Kader gestrichen zu werden, ist gross. «Es gibt keine Limits. Da werden Familienangehörige unter Druck gesetzt oder mit der Konfiszierung von Eigentum gedroht. Natürlich ist auch die Karriere von Sportlern bedroht. Bis hin zu strafrechtlichen Massnahmen», sagte Fathollah-Nejad.

Highlight Fussball-WM

Die WM ist für das sportverrückte Land ein absolutes Highlight. Schon die Qualifikation wurde wie ein Titel gefeiert. Den Gruppenspielen gegen England, Wales und Katar fieberten die Iraner monatelang entgegen. Nun stellen die Proteste den Fussball in den Schatten und viele fordern den Ausschluss ihres beliebten «Team-Melli», um die islamische Republik zu strafen. «Wie soll man an Fussball denken, wenn unser Volk dermassen leidet?», fragte Ex-Nationalspieler und Trainer des beliebten Vereins Persepolis Teheran, Jahia Golmohammadi.

Andere sehen die internationale Aufmerksamkeit während der WM als Chance. «Weil Spieler auf der Weltbühne sind und dort auch Solidarität zeigen können. Das könnte die Protestierenden sogar mehr ermutigen, als wenn der Iran disqualifiziert wird», sagte Fathollah-Nejad.

Dass Sport im Iran durch und durch politisiert ist, weiss Vaisi aus eigener Erfahrung. «Regierungsvertreter und Kleriker begleiteten uns auf den Lehrgängen. Wir wurden gezwungen, zu beten. Uns wurde gesagt, wie wir uns zu verhalten haben», erinnerte sich der 32-Jährige. Er kann verstehen, dass sich aktive Athleten mit Kritik zurückhalten. «Für viele ist Profisport der einzige Weg aus der Armut. Und wer Kritik übt, hat keine sportliche Perspektive mehr», sagte Vaisi.

Ali Daei (hier 2006) ist im Iran ein Nationalheld. Im Zuge der systemkritischen Proteste soll ihm der Pass abgenommen worden sein.
Ali Daei (hier 2006) ist im Iran ein Nationalheld. Im Zuge der systemkritischen Proteste soll ihm der Pass abgenommen worden sein.
Bild: Keystone

Viele ehemalige Fussballstars, unter ihnen auch drei frühere Profis aus der deutschen Bundesliga, äussern sich dagegen öffentlich - und nehmen Konsequenzen in Kauf. Wegen seiner Kritik am System droht etwa dem früheren Bayern-Spieler Ali Karimi eine Verhaftung. Dem iranischen Ehrenspielführer Ali Daei soll der Pass abgenommen worden sein. Auch der frühere HSV-Profi Mehdi Mahdavikia kritisierte Irans Führung und trat als Cheftrainer der iranischen U-21 Nationalmannschaft zurück.

Kletterin als Galionsfigur der Frauenbewegung

Sie alle sind zu Nationalhelden geworden. So wie Kletterin Elnaz Rekabi, die im Finale der Asienmeisterschaften in Südkorea ohne das für die iranischen Sportlerinnen obligatorische Kopftuch antrat. Über Nacht wurde sie zur Galionsfigur der Frauenbewegung.

Vaisi hatte sich vor seiner Flucht ebenfalls für ein offeneres, freieres Iran eingesetzt. «Ich war politisch im Untergrund aktiv. Irgendwann wurden meine Freunde verhaftet und ich bin schnell geflohen.» Wann er seine Eltern und Geschwister wiedersieht, die immer noch im Iran leben? Das weiss er nicht. «Ich kann nicht zurück. Sonst werde ich festgenommen und im schlimmsten Fall hingerichtet.» Aufgeben will er aber nicht - genauso wenig wie viele mutige Menschen, die im Iran um ihre Freiheit kämpfen.