Kein Essen für Gaza Israel stoppt Hilfsgüter – UNO spricht von Kriegsverbrechen

Jenny Keller

27.6.2025

Der 3-jährige Omar al-Hams kämpft im Nasser-Spital in Khan Yunis ums Überleben, nachdem er bei einem israelischen Luftangriff im Norden Gazas seine gesamte Familie verloren hat. Er leidet an mehreren Knochenbrüchen und schwerer Mangelernährung. 26. Juni 2025.
Der 3-jährige Omar al-Hams kämpft im Nasser-Spital in Khan Yunis ums Überleben, nachdem er bei einem israelischen Luftangriff im Norden Gazas seine gesamte Familie verloren hat. Er leidet an mehreren Knochenbrüchen und schwerer Mangelernährung. 26. Juni 2025.
IMAGO/Doaa Albaz, Anadolu Agency

Israels Regierung stoppt erneut alle Lebensmittellieferungen in den Gazastreifen. Grund seien Plünderungen durch die Hamas. Die UNO widerspricht und wirft Israel vor, Hunger als Waffe einzusetzen.

Jenny Keller

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Premier Netanjahus Regierung stoppt erneut alle Lebensmittellieferungen nach Gaza, offiziell wegen angeblicher Diebstähle durch die Hamas.
  • Internationale Hilfsorganisationen und die UNO sehen keine Belege für grossflächigen Diebstahl. Sie werfen Israel vor, Hunger als Waffe einzusetzen.
  • Premier Netanjahu räumte ein, dass Israel selbst kriminelle Banden mit Waffen beliefert hat, die gegen Hamas kämpfen.
  • Seit Mai läuft der Grossteil der Hilfe über die neu gegründete Gaza Humanitarian Foundation. Laut UNO und NGOs werden fast täglich Hilfesuchende beim Zugang erschossen.
  • Die UNO kritisieren Israels Verhinderung lebensnotwendiger Hilfe für Zivilist*innen als Verstoss gegen das Völkerrecht.

Die humanitäre Lage in Gaza spitzt sich weiter dramatisch zu. Israels Regierung unter Benjamin Netanjahu hat laut Berichten des israelischen TV-Senders Channel 12 erneut sämtliche Hilfslieferungen in den abgeriegelten Küstenstreifen blockiert.

Grund dafür sollen Drohungen aus Netanjahus eigener, rechtsextremer Koalition sein. Finanzminister Bezalel Smotrich drohte, die Regierung zu verlassen, falls Hilfen weiter durchgelassen würden.

Zugleich verwies Netanjahu erneut auf die Hamas. Er forderte die Armee auf, binnen zwei Tagen einen Plan zu entwickeln, «wie humanitäre Hilfe nicht mehr von der Hamas gestohlen» werden könne. Bereits Mitte März hatte Netanjahu die Hilfslieferungen nach Gaza für elf Wochen ausgesetzt: mit der Begründung, verhindern zu wollen, dass humanitäre Hilfe in die Hände der Hamas gelangt.

UNO und Hilfswerke widersprechen Israels Darstellung

Internationale Hilfsorganisationen und die UNO weisen diese Begründung jedoch scharf zurück. Sie betonen seit Monaten, es gebe keine Belege für systematischen Diebstahl von Hilfsgütern durch die Hamas.

Palästinenser*innen tragen Hilfsgüter durchs Krisengebiet in Gaza.
Palästinenser*innen tragen Hilfsgüter durchs Krisengebiet in Gaza.
Jehad Alshrafi/AP/dpa

Vielmehr seien es vereinzelt kriminelle Banden, darunter eine Gruppe Beduinen um den mehrfach wegen Drogenhandels vorbestraften Yasser Abu Shabab mit Verbindungen zum Islamischen Staat, welche die Hilfslieferungen plündern. Diese Sicherheitsprobleme seien jedoch eine direkte Folge des über 20 Monate andauernden Krieges.

Brisant: Premier Netanjahu selbst räumte im Juni ein, dass Israel diese Banden mit Waffen beliefert – weil sie gegen die Hamas kämpfen. Der Vorwurf, die Hamas finanziere sich durch den Weiterverkauf gestohlener Hilfsgüter, ist bislang nicht belegt. Kritiker*innen von Human Rights Watch und Médecins Sans Frontières sehen darin einen Vorwand, die humanitäre Hilfe gezielt zu drosseln.

Die UNO stellt klar: Als Besatzungsmacht sei Israel verpflichtet, die Versorgung der Zivilbevölkerung sicherzustellen. «Die Versorgung als Waffe zu benutzen und den Zugang zu lebenserhaltenden Dienstleistungen zu verwehren, stellt ein Kriegsverbrechen dar», erklärt ein UNO-Sprecher.

Mehr als 400 Tote bei Hilfsgüter-Verteilung

Besonders umstritten ist der «militarisierte Mechanismus» Israels zur Verteilung von Hilfe. Laut UNO-Angaben sind seit Mai über 400 Menschen allein bei der Ausgabe von Lebensmitteln und Wasser von israelischen Soldat*innen erschossen worden. Israel verweist auf chaotische Szenen und Sicherheitsrisiken. Hilfswerke fordern sichere, unbewaffnete und humanitäre Korridore.

Seit Mai wird ein Grossteil der Hilfen über die neu gegründete Gaza Humanitarian Foundation (GHF) verteilt, die Subunternehmen einsetzt, die von Ex-US-Soldat*innen und CIA-Agent*innen geführt werden. Hilfsorganisationen bemängeln, dass unabhängige UN-Strukturen zu Gunsten privatwirtschaftlicher Aufträge verdrängt wurden.

Seit Beginn dieser Verteilung berichten die von der Hamas kontrollierten Behörden und internationale Hilfsorganisationen fast täglich von tödlichen Angriffen der israelischen Armee auf Hilfesuchende.

Hunger als Kriegswaffe?

UN-Generalsekretär António Guterres und Organisationen wie Médecins Sans Frontières benennen seit Monaten die ausserordentliche humanitäre Katastrophe. Mehr als eine Million Menschen in Gaza seien akut vom Hungertod bedroht.

Neben der Ernährungskrise verschärft sich auch die medizinische Notlage. Die WHO kritisiert, dass Hilfslieferungen nicht nur unzureichend sind, sondern auch gezielt verzögert oder blockiert werden.

Die aktuell dürftige Lieferung dringend benötigter medizinischer Güter seit Monaten werde der Bevölkerung im Gazastreifen kaum Erleichterung bringen, betonte die WHO heute Freitag.

WHO-Koordinator Dr. Rik Peeperkorn erläuterte in Jerusalem die Schwierigkeiten, von israelischen Behörden Genehmigungen für weitere UN- und Partnertransporte zu erhalten. «Das ist wirklich bedauerlich und sollte nicht passieren, weil man diese verzweifelten Menschen – insbesondere junge Männer – nicht ihr Leben riskieren sehen möchte, nur um etwas zu essen zu bekommen.»

«Die Menschen werden erschossen»

Er sprach von chaotischen Szenen an nicht von den UN betriebenen Verteilpunkten, wo Hungernde Hilfsgüter direkt von Lastwagen holten. Vor der Blockade habe das UN-System die Bedürftigsten zuverlässig erreicht. Heute sei das wegen der wiederholten Blockaden Israels nicht mehr möglich.

Palästinenser trauern in Gaza-Stadt um Angehörige, die bei einem israelischen Militärschlag getötet wurden.
Palästinenser trauern in Gaza-Stadt um Angehörige, die bei einem israelischen Militärschlag getötet wurden.
Jehad Alshrafi/AP/dpa

«Die Menschen werden definitiv erschossen», sagte Dr. Luca Pigozzi, Notfallmediziner der WHO vor Ort in Gaza. «Sie sind auch Opfer von Explosionen und anderen Verletzungen.» Die Aussagen folgen auf Berichte über einen Angriff auf einen Markt in Deir al Balah am Donnerstag. Laut UN-Nothilfebüro (OCHA) wurden dabei mehr als 20 Menschen getötet und rund 70 verletzt.

Pigozzis Appell an Israel: «Öffnet die Routen und stellt sicher, dass wir unsere Lieferungen hineinbringen können. Der Markt muss mit Lebensmitteln, Wasser, Hilfsgütern und Medikamenten überschwemmt werden – auf möglichst effiziente Weise.»

In Gaza werden laut israelischen Angaben noch 53 Geiseln festgehalten, von denen nur noch 20 am Leben sein sollen. Zugang für internationale Medien gibt es nach wie vor nicht. Israel blockiert seit Kriegsbeginn unabhängige Presseberichte aus Gaza.

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