Hunger und Verzweiflung in GazaIsraels Blockade bringt 14'000 Babys in Gefahr
Jenny Keller
20.5.2025
Erste Hilfsgüter erreichen Gaza: Tropen auf den heissen Stein?
Angesichts des Vorgehens der israelischen Streitkräfte in dem abgeriegelten Küstenstreifen und der andauernden Notlage der Zivilbevölkerung wächst der internationale Druck auf Regierungschef Benjamin Netanjahu.
20.05.2025
UNO und WHO schlagen Alarm wegen der dramatischen Lage im Gazastreifen. Während Israel eine neue Offensive startet, sterben Zivilist*innen. 14'000 Babys sind laut UNO gefährdet.
Laut UNO sind derzeit schätzungsweise 14'000 Kleinkinder in Gaza von schwerer akuter Mangelernährung betroffen oder bedroht. UNO-Koordinator Tom Fletcher warnte in einem Interview mit der BBC, dass dringend innerhalb von 48 Stunden humanitäre Hilfe beginnen müsse, um diese Kinder langfristig zu retten. Eine Aussage, dass 14'000 Babys innerhalb von 48 Stunden sterben würden, wurde später von der UNO relativiert.
Israel liess am Montag nur fünf Lastwagen mit Hilfsgütern die Grenze passieren. Fletcher nennt das einen «Tropfen auf den heissen Stein» – völlig unzureichend für zwei Millionen Menschen.
Auch der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, äusserte sich sehr besorgt: «Zwei Millionen Menschen hungern – während tonnenweise Nahrungsmittel an den Grenzen feststecken.»
Israel lässt keine Hilfsgüter nach Gaza
Diese Warnungen sind nicht neu. Doch die Lage hat sich in den letzten Wochen dramatisch zugespitzt. Nach dem Scheitern eines temporären Waffenstillstands mit der Hamas hat Israel den Gazastreifen seit dem 2. März erneut vollständig abgeriegelt. Humanitäre Hilfsgüter, Lebensmittel und Medikamente dürfen seither kaum mehr hinein.
Beerdigung in Gaza: Ein Vater trauert um seine Frau und zwei Kinder.
Abdel Kareem Hana/AP/dpa
Ein aktueller UN-Bericht geht davon aus, dass jeder fünfte Mensch in Gaza bereits an akuter Unterernährung leidet. «Ohne sofortige Hilfe könnte ein Viertel der Bevölkerung in eine Hungersnot gedrängt werden», heisst es in einer am Montag veröffentlichten Mitteilung der Vereinten Nationen.
Parallel zur humanitären Notlage nahm Israels Armee am 17. März ihre Militäroperationen mit voller Härte wieder auf. In Chan Yunis forderte die israelische Armee Zivilist*innen auf, die Stadt «sofort» zu verlassen – eine «beispiellose Attacke» stehe bevor.
Verhalten Israels sei «ungeheuerlich»
Bereits Anfang Mai hatte Israel angekündigt, seine Offensive in Gaza nochmals auszuweiten. Das erklärte Ziel: die vollständige Besetzung des Gazastreifens.
Hunderte Menschen wurden laut «Guardian» und WHO allein in den letzten Tagen getötet, viele davon Frauen und Kinder. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza starben allein in den 72 Stunden vor Montagmorgen mindestens 300 Palästinenserinnen und Palästinenser bei israelischen Luftangriffen.
Die israelische Zivilverteidigung ihrerseits meldet am Dienstagmorgen mindestens 44 Tote, die innerhalb von nur 30 Minuten durch Luftanschläge ums Leben kamen. Insgesamt beläuft sich die Zahl der Todesopfer seit Beginn des Kriegs auf über 53'000, so das Gesundheitsministerium in Gaza.
Netanjahu: «Bis der totale Sieg erreicht ist»
Der deutsch-israelische Journalist Ofer Waldman erklärte gegenüber SRF News, was hinter der Offensive steckt: «Sie dient innenpolitischen Interessen. Rechte Kräfte in Benjamin Netanjahus Regierung fordern offen die Neubesiedlung Gazas.»
Israels Regierungschef steht nicht nur innenpolitisch unter Druck. Grossbritannien, Frankreich und Kanada nannten Israels Verhalten in einer gemeinsamen Erklärung am Montag «ungeheuerlich» und kündigten mögliche Konsequenzen an, sollte sich an der humanitären Lage nichts ändern.
Netanjahu warf den westlichen Staaten daraufhin vor, «den Völkermordangriff der Hamas vom 7. Oktober» zu belohnen. Er betonte, Israel werde seine Militäroperationen so lange fortsetzen, «bis der totale Sieg erreicht ist».
Hilfsgüter für Bevölkerung schwer erreichbar
Netanjahu fordert die westlichen Staaten ausserdem auf, dem Kurs von Donald Trump zu folgen. Erst nach dessen Warnung vor einer Hungersnot habe Israel überhaupt begonnen, eine minimale Menge an Hilfsgütern zuzulassen.
Doch was bedeutet «minimal»? Noch ist unklar, wann und wie viele Lastwagen wirklich in den Gazastreifen gelangen. In Aussicht gestellt sind Verteilzentren in sogenannten «humanitären Zonen», die jedoch unter israelischer Kontrolle stehen. Helferinnen und Helfer bezweifeln, dass diese Zentren für die notleidende Bevölkerung überhaupt erreichbar sind.
Vor Beginn des Gaza-Kriegs transportierten rund 500 Lastwagen täglich Waren in das kriegsgebeutelte Küstengebiet. Seit dem 2. März 2025 blockiert Israel Hilfsgüter.
Ohad Zwigenberg/AP/dpa
Gleichzeitig wächst in der israelischen Gesellschaft der Widerstand und das Bewusstsein für das menschliche Leid in Gaza. Immer mehr Stimmen hinterfragen nicht nur die militärische Strategie, sondern auch die politische Motivation hinter der aktuellen Offensive.
Kritik wächst auch in Israel
Bei Grossdemonstrationen in Tel Aviv zeigten Aktivistinnen und Aktivisten zuletzt Bilder toter Kinder aus Gaza. Ofer Waldman sieht in diesen Protesten ein langsames, aber zunehmendes Erwachen des Mitgefühls in Israel: «Die grausame Realität dringt erst jetzt wirklich durch.»
Die rechtsextremen Kräfte in der Regierung geniessen keine Mehrheit in der Bevölkerung, so Waldman. Dennoch treiben sie den Krieg mit Nachdruck voran. Und vieles deutet darauf hin, dass sich auch die militärische Strategie Israels verschärft hat.
Die Befreiung der Geiseln steht offenbar nicht mehr gleichrangig neben dem Ziel, die Hamas zu zerschlagen. Letzteres hat nun Priorität. Die Folge: Neue Fluchtbewegungen und steigende Opferzahlen. Das internationale Ringen um eine Feuerpause geht weiter. Für viele in Gaza dürfte es bereits zu spät sein.
Korrekturhinweis: In einer früheren Version des Artikels hiess es, dass 14'000 Kinder im Gazastreifen innerhalb von 48 Stunden vom Tod bedroht seien. Diese Aussage stützte sich auf ein Interview mit UNO-Koordinator Tom Fletcher, in dem er sagte: «In den nächsten 48 Stunden werden 14'000 Babys sterben, wenn wir sie nicht erreichen können.» Nachträglich stellte sich heraus, dass diese Formulierung nicht korrekt war. Richtig ist: Rund 14'000 Kinder sind von schwerer Mangelernährung betroffen oder gefährdet. Die genannte Frist von 48 Stunden bezieht sich auf den Zeitraum, in dem Hilfslieferungen beginnen müssten, um langfristige Todesfälle zu verhindern. Der Artikel wurde entsprechend korrigiert.
In Gaza warten viele Familien verzweifelt auf Nahrungsmittelhilfe.