Russland unter Druck Kiew reisst systematisch Lücken in die Luftabwehr auf der Krim

Philipp Dahm

2.2.2024

Der Marschflugkörper-Angriff auf den Flughafen Sewastopol alias Belbek Militärflugplatz am 31. Januar ist nur ein Baustein in einer ganzen Reihe von systematischen Attacken auf russische Streitkräfte auf der Krim.
Der Marschflugkörper-Angriff auf den Flughafen Sewastopol alias Belbek Militärflugplatz am 31. Januar ist nur ein Baustein in einer ganzen Reihe von systematischen Attacken auf russische Streitkräfte auf der Krim.
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Das ukrainische Militär greift die russischen Streitkräfte auf der Krim schon seit Wochen systematisch an: Erst werden Löcher in die Luftabwehr gerissen – und diese dann gnadenlos ausgenutzt.

Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die Krim und insbesondere Sewastopol sind für die russischen Streitkräfte von grosser Bedeutung.
  • Die ukrainischen Streitkräfte versuchen über mehrere Phasen, den Gegner daran zu hindern, die Basen zu nutzen.
  • In einer ersten Phase lenkt Kiew auf der Krim die Aufmerksamkeit auf Seedrohnen, um dann Radar- und Kommunikationsanlagen in der ersten Januarhälfte aus der Luft anzugreifen.
  • Russland schliesst die Lücke in der Flugabwehr aus der Luft. Die Ukraine schiesst daraufhin Mitte Januar ein Frühwarn- und ein Kommandoflugzeug ab.
  • Durch die Lücke in der Luftabwehr sind Angriffe auch im russischen Kernland möglich.
  • Ende Januar nehmen sich ukrainische Drohnen weitere Radargeräte vor. Es folgt ein massiver Raketenangriff auf einen Militärflugplatz bei Sewastopol, der die russische Luftabwehr weiter schwächt.
  • Zuletzt nimmt Kiew wieder Moskaus Marine ins Visier und versenkt mit Kamikaze-Seedrohnen eine Raketenkorvette.

Sie ist die grösste Stadt auf der Krim und für Russlands Schwarzmeerflotte extrem wichtig: «Sewastopol ist die Hauptbasis, die den kompletten Unterhalt der Flotte gewährleistet», erklärt der Kommandeur der ukrainischen Marine. Es gebe dort Docks, Zulieferer und Flugplätze wie Belbek und Kacha, weiss Oleksij Nejischpapa: Sewastopol sei «einer der Gründe» für die russische Annexion der Halbinsel 2014 gewesen.

Vizeadmiral Oleksij Nejischpapa im Mai 2021 in Kiew.
Vizeadmiral Oleksij Nejischpapa im Mai 2021 in Kiew.
imago images/Ukrinform

Als der Vizeadmiral in dem am 11. Januar veröffentlichten Interview gefragt wird, ob Russland Sewastopol überhaupt noch sicher nutzen kann, antwortet Nejischpapa nicht direkt. «Es ist wichtig, zu verstehen, dass wir mehr haben als bloss Drohnen.» Die Luftwaffe mit ihren Marschflugkörpern spiele ebenso eine wichtige Rolle wie der Inlandsgeheimdienst SBU mit seinen Drohnen, die Küstenbatterien oder der Militärgeheimdienst.

Blick auf Sewastopol (unten): Nördlich von Fruktove in der Bildmitte ist der Militärflugplatz beim Dorf Belbek zu sehen. Wieder weiter nördlich liegt das Dorf Kacha (rot markiert) mit seiner Luftwaffenbasis.
Blick auf Sewastopol (unten): Nördlich von Fruktove in der Bildmitte ist der Militärflugplatz beim Dorf Belbek zu sehen. Wieder weiter nördlich liegt das Dorf Kacha (rot markiert) mit seiner Luftwaffenbasis.
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Anfang Februar haben die russischen Streitkräfte auf der Krim und speziell in Sewastopol keine ruhige Minute. Kiew verfolgt auf der Halbinsel eine Strategie und geht mit einer Systematik vor, die erst jetzt deutlich wird. Nejischpapa hat sie angedeutet: «Einige unserer Tricks und Taktiken, die 2022 und 2023 funktioniert haben, werden 2024 nicht funktionieren. Deshalb müssen wir die Taktiken und die technischen Charakteristika von allem, was man tut, ändern.»

Erste Phase: Ablenkungsmanöver

Die erste Phase der ukrainischen Strategie geht etwa bis Mitte Januar. Ziel ist scheinbar die russische Schwarzmeerflotte: Kiews Seedrohnen schwärmen aus. Der Inlandsgeheimdienst SBU veröffentlicht am 1. Januar auch noch ein Video, das zeigt, dass jene Seedrohnen nun auch mit Raketen bestückt sind. In dem Clip greift eine Drohne vom Typ Sea Baby Sewastopol an.

Die russischen Streitkräfte konzentrieren sich auf die Verteidigung ihrer Schiffe, als ukrainische Drohnen aus der Luft zuschlagen. 36 davon hat die russische Flugabwehr über der Krim zerstört, meldet Moskau am 4. Januar. Doch der Schwarm hat dennoch eine Mission erfüllt: Er hat bei Saky Lücken in der Luftabwehr gefunden, die umgehend ausgenutzt werden.

Kiew feuert noch am selben Tag mehrere Täusch- und Marschflugkörper ab. Die Storm-Shadow- und Scalp-Raketen treffen eine Radarstation bei Jewpatorija, das rund 60 Kilometer nördlich von Sewastopol liegt. Im Benachbarten Ujutne wird ein Flugabwehrsystem ausgeschaltet. Auch die Hafenstadt selbst wird zum Ziel, als eine Rakete einen Kommando- und Kommunikationsposten zerstört. Auch ein Munitionslager geht in die Luft.

Nun muss es den Russen dämmern, dass nicht ihre Flotte, sondern die Luftabwehr das eigentliche Ziel des Gegners ist, denn durch den Ausfall der Radarstation und der Kommando- und Kommunikationszentrale hat diese nun über der Krim grosse Löcher. Und die nutzt Kiew umgehend aus – mit Drohnenangriffe auf russisches Kernland.

Zweite Phase: Lücken in der Luftabwehr ausnutzen

Am 11. Januar fliegen ukrainische Drohnen nach Rostow am Don, werden aber laut lokaler Behörden abgeschossen. Moskau reagiert: Um die Lücke zu schliessen, bietet es ein Frühwarnflugzeug vom Typ A-50 und einen fliegenden Kommandoposten vom Typ Il-22M auf. 

Zerstörte Radar- und Kommunikationsanlagen auf der Krim machen Weg frei, damit ukrainische Drohnen und Raketen weiter östlich im russischen Kernland zuschlagen können.
Zerstörte Radar- und Kommunikationsanlagen auf der Krim machen Weg frei, damit ukrainische Drohnen und Raketen weiter östlich im russischen Kernland zuschlagen können.
Youtube/Reporting from Ukraine

Um tief fliegende Drohnen nicht zu verpassen, fliegen die russischen Flugzeuge hoch und kommen der Front näher als gewöhnlich. Das nutzen Kiews Streitkräfte aus: Es zeichnet die Routen auf und verlegt Patriot-Flugabwehr in die Nähe der Front – und schlägt am 14. Januar zu.

Die Armee nutzt das Patriot-System ähnlich wie den Raketenwerfer Himars: Shoot-and-scoot, schiessen und abhauen, nennen die Militärs die Taktik. Der Plan geht auf. Der Absturz der A-50 schmerzt den Kreml nicht nur, weil – je nach Quelle – nur noch acht bis zwölf Exemplare im Arsenal sind. Oder weil die Maschine rund 300 Millionen Dollar kosten soll

Dritte Phase: Die Wunde weiter aufreissen

Was Moskau wehtut, ist der Verlust der 15-Mann-Besatzung. Neben fünf Personen vom fliegenden Personal sind zehn Techniker an Bord gewesen: Die Spezialisten können nicht ohne Weiteres ersetzt werden. Die Il-22M kann schwer beschädigt landen: Wladimir Putin wird später bestätigen, dass eine Patriot sie vom Himmel geholt hat.

Russlands Problem ist, dass die Lücke in der Luftabwehr offen bleibt – und die Ukraine erneut nachsetzt. Am 17. Januar gibt es eine heftige Explosion in einer Chemiefabrik in Rostow am Don. Eine Woche später geht eine Ölraffinerie in Tuapse in Flammen auf. Eine Fabrik für Schnellboote in der Nähe wird ebenfalls getroffen und auch Ziele auf der Krim angegriffen, ergänzt Reporting from Ukraine.

Die Lücke in der Luftabwehr bleibt offen und ermöglicht in der zweiten Januarhälfte weitere Attacken auf der Krim und im russischen Mutterland.
Die Lücke in der Luftabwehr bleibt offen und ermöglicht in der zweiten Januarhälfte weitere Attacken auf der Krim und im russischen Mutterland.
Youtube/Reporting from Ukraine

In diese offene Wunde legt Kiew am 30. Januar den Finger – und reisst sie weiter auf, als elf Drohnen in Rosdolne auf der Krim eine weitere Radarstation angreifen.

Die Drohnen ebnen der nächsten Angriffswelle aus Marschflugkörpern den Weg: Am 31. Januar gibt es mehrere Explosionen nördlich von Sewastopol. Der oben erwähnte Militärflugplatz Belbek wird getroffen: Angeblich schlagen die Raketen in einem unterirdischen Hauptquartier und einer Kommunikationszentrale ein. Hochrangige Offiziere werden getötet und drei Kampfjets zerstört, heisst es weiter.

Man darf annehmen, dass bei den Land- wie auch den Luftstreitkräften auf der Krim zu diesem Zeitpunkt Chaos herrscht. Diese Situation macht sich der Gegner erneut zunutze, um am nächsten Tag Wladimir Putins Marine ins Visier zu nehmen.

Am 1. Februar sprengen mehrere ukrainische Seedrohnen Löcher in die Iwanowez und versenken die russische Raketenkorvette. Sie tun das auch noch im Salzwassersee Donuslaw, der bloss einen 200 Meter weiten Durchgang zum Meer hat.

Die russischen Streitkräfte auf der Krim dürften sich auf weitere Drohnen- und Raketenangriffe einstellen müssen. Kiew will Moskau daran hindern, die Basen auf der Halbinsel zu nutzen. «Das ist eine Arbeit, die getan werden muss», weiss Vizeadmiral Nejischpapa. Bis dato haben seine Leute laut Oryx fünf russische Kriegsschiffe beschädigt und elf weitere zerstört – die Iwanowez nicht mitgerechnet. Erstaunlich für eine Marine, die keine richtige Flotte hat.