Rivalität im Krieg Klitschko teilt wieder gegen Selenskyj aus

Von Stefan Michel

30.12.2022

Klitschko: «Wir werden niemals aufgeben»

Klitschko: «Wir werden niemals aufgeben»

Nach den russischen Raketenangriffen auf Grossstädte im ganzen Land sind auch die Schäden in der Hauptstadt Kiew gross. Deren Bürgermeister Vitaly Klitschko hat bekräftigt, dass sich die Bevölkerung nicht kleinkriegen lasse.

29.12.2022

Vitali Klitschko kämpft als Bürgermeister Kiews gegen die russische Aggression. Seinen Aufrufen um Einigkeit wird er selbst nicht immer gerecht, denn er liegt mit Präsident Wolodymyr Selenskyj im Clinch.

Von Stefan Michel

Vitali Klitschko könnte seit vielen Jahren das Leben geniessen. Als mehrfacher Box-Weltmeister im Schwergewicht hat er viel verdient und könnte sich auf repräsentative Aufgaben beschränken. Stattdessen ist er in die Politik eingestiegen und ist seit acht Jahren Bürgermeister von Kiew. 

Vor dem Krieg war er ein Gegenspieler von Präsident Selenskyj. Dieser wollte ihn entmachten lassen. Klitschko hat selber Ambitionen auf die Präsidentschaft. Nach längerem Stillhalten kritisieren die beiden nun auch im Krieg wieder öffentlich die Arbeit des anderen. 

In einem Gespräch mit dem «Spiegel» bekräftigt Klitschko, wie wichtig es sei, dass jetzt keine Feindschaft innerhalb der Ukraine entstehe. Diese würde nur Russland nützen. Zugleich lässt er mehrmals durchblicken, dass er unzufrieden ist mit der Arbeit des Präsidenten.

So habe er bereits vor dem russischen Einmarsch gefordert, dass sich die Ukraine auf diesen möglichen Fall vorbereite und für die Zivilverteidigung getrommelt.

«Aber die Zentralregierung hatte gesagt, alles werde in Ordnung sein, es gebe keinen Krieg. Ich wurde kritisiert, ich solle keine Panik schüren.»

Vitali Klitschko

Bürgermeister von Kiew

Nach der Invasion sei die russische Armee rasch nur noch zehn Kilometer vom Stadtzentrum gestanden und habe Terrorkommandos in Kiew operieren lassen, beschreibt Bürgermeister Klitschko. Er sei ein Ziel von Killerkommandos gewesen, wie die Vorsteher anderer Städte. 30 Bürgermeister seien entführt worden, sieben würden immer noch vermisst. 

«Die Landesregierung half den Bürgermeistern nicht»

Alle hätten sich im Dilemma befunden, ob sie auf ihrem Posten bleiben sollten – womit sie sich dem Vorwurf aussetzten, Kollaborateure zu sein – oder zu fliehen und als Angsthasen bezeichnet zu werden. Er habe die Landesregierung immer wieder um Anweisungen gebeten, aber keine klaren Antworten erhalten. 

Selbst die militärische Verteidigung Kiews sei noch zum Zeitpunkt der Invasion nicht richtig vorbereitet gewesen, fährt Klitschko im Gespräch mit dem «Spiegel» fort. Die Armee habe zu wenig Autos, zu wenig Fahrgestelle für Geschütze gehabt. «Richtig geschockt war ich, als uns das Militär um Öl gebeten hat für ihre Kanonen.»

Wolodymyr Selenskyj hat Vitali Klitschko vor einigen Wochen kritisiert, er habe zu wenig Wärmeschutzräume für die Bevölkerung eingerichtet. Das lässt der Kiewer Bürgermeister nicht gelten. Er und seine Mitarbeitenden hätten mehr solche Aufenthaltsräume geschaffen als alle anderen Regionen der Ukraine. Ohne Unterstützung der Regierung hätten sie Generatoren aufgetrieben.

Klitschko kritisiert seinen Kritiker

Schlimmer aber findet er, dass Selenskyj ihn öffentlich angegriffen habe: «Selenskyjs Kritik war ein Fehler. Wenn unsere Bürger oder unsere Partner im Ausland sehen, dass wir Feinde im Innern suchen, ist das kontraproduktiv.»

Dann wendet er sich dem gemeinsamen Feind zu. Weil Putin an der Front keinen Erfolg habe, wolle er das Leben der Menschen zerstören, indem er Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung angreife. Es sei nicht nur unangenehm, wenn bei tiefen Minustemperaturen die Heizung nicht funktioniere. Wenn es in diesem Fall nicht gelinge, die Leitungen leer zu pumpen – weil gerade Stromausfall herrsche –, könne die Flüssigkeit in den Heizungen gefrieren und die Leitungen sprengen. 

«Putins Ziel ist Panik, sodass alle ins Ausland evakuiert werden. Die Ukraine als Territorium ohne Ukrainer.»

Witali Klitschko

Bürgermeister von Kiew

Er selber wisse manchmal gar nicht, ob in seinem Zuhause die Heizung funktioniere, weil er oft im Büro oder bei Freunden übernachte. Das Einzige, das ihm beim Stressabbau helfe, sei Training. Wenn er frühmorgens eine Stunde Zeit habe, gehe er in ein Fitnessstudio, um zu schwitzen. «Der Sport ist das Einzige, was ich noch geniessen kann. Ich bin auch nur ein Mensch.»

Kritik an den westlichen Regierungen

Einig ist er mit Präsident Selenskyj darin, was die russische Aggression gegen ihr Land für die westliche Welt bedeute: Der grösste Fehler von deren Regierungen sei die Annahme gewesen, Putin würde sich mit der Krim und dem Donbass zufriedengeben. «Er geht so weit, wie wir es ihm erlauben», ist Klitschko überzeugt. Der russische Präsident spreche nämlich auch über Polen und die baltischen Länder. 

Klitschko erinnert die deutschen Journalisten zudem daran, dass ein Teil Deutschlands zur Einflusssphäre der Sowjetunion gehört und Putin jahrelang als KGB-Agent in der DDR gearbeitet habe. Viele hielten eine russische Invasion Deutschlands für schwer vorstellbar. «Vor einem Jahr war der Krieg in der Ukraine auch schwer vorstellbar. Wir verteidigen heute nicht nur unser Land, sondern jeden von euch!»