Lagebild Ukraine Beginnt Kiews Offensive um Mitternacht?

Von Philipp Dahm

9.5.2023

Lagebild Ukraine: Das Schlachtfeld kommt mehr und mehr in Bewegung

Lagebild Ukraine: Das Schlachtfeld kommt mehr und mehr in Bewegung

Die Luft in Bachmut wird immer dünner, doch die Verteidiger halten stand. Im Norden gibt es Scharmützel, während im Süden ukrainische Kräfte möglicherweise die erwartete Grossoffensive vorbereiten: Ukrainische Truppen haben den Dnepr überschritten.

24.04.2023

Wagner-Boss Jewgeni Prigoschin rechnet mit dem Start der ukrainischen Offensive um Mitternacht. Kiews Verteidigungsminister dämpft derweil die Erwartungen an den geplanten Vorstoss. Und Bachmut? Brennt.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Wagner-Boss Jewgeni Prigoschin prognostiziert, die ukrainische Offensive würde heute um Mitternacht starten.
  • Der ukrainische Verteidigungsminister bremst: Oleksij Resnikow warnt vor übertriebenen Erwartungen an die Offensive.
  • Kiew befürchtet, die Unterstützung aus dem Westen könnte sinken, wenn nicht genug Erfolge vorgewiesen werden können.
  • In Bachmut machen die russischen Angreifer bei angeblich schweren Verlusten kaum Fortschritte – trotz des Einsatzes verbotener Brandmunition.
  • Im Süden erwecken ukrainische Kräfte den Anschein, sie könnten über den Dnjepr vorrücken.

Im Donbass regnet es heute und auch morgen: Der angetrocknete Boden weicht wieder auf, doch am Wochenende gibt es kein Niederschlag – und Temperaturen über 20 Grad. Wann stimmen die Voraussetzungen, um im grösseren Stil mechanisierte Vorstösse durchzuführen?

Wann auch immer es losgeht: Man dürfe auch nicht zu viel erhoffen, bremst der ukrainische Verteidigungsminister. «Die Erwartungen an unsere Gegenoffensive sind in der Welt übertrieben», warnt Oleksij Resnikow in der «Washington Post». «Die meisten Leute warten auf etwas Riesiges.»

Den Hintergrund erklärt die «New York Times»: «Wenn die Ukrainer die Erwartung nicht erfüllen, riskieren sie, dass die Unterstützung des Westens erodiert. Das macht den Top-Beamten in Kiew Angst.» Und auch Moskau spekuliert auf so ein Szenario, glaubt der Experte von der New Yorker Denkfabrik Council on Foreign Relations.

»Wir stecken in diesem Krieg für Jahrzehnte fest»

«Ich bin mir sicher, dass der Kreml damit kalkuliert, dass Russland zäher ist als der Westen», ordnet Thomas Graham ein. «Sie denken auch an die Wahl-Perioden: Wer weiss, was nach 2024 in den USA passiert? Es ist nicht klar, ob das amerikanische Volk auf lange Sicht mitmacht. Ich denke, Putin und der Kreml glauben in dieser Hinsicht, dass die Zeit für sie spielt.»

«Es gibt viele Supporter der Ukraine, die uns anfeuern», sagt dazu Resnikow. «Deshalb warten sie alle auf den nächsten Match. Aber für uns ist das kein Spiel. Für uns ist das eine ernste Herausforderung. Für uns geht es um die Leben unserer Soldaten.»

Einer von ihnen ist Pyrus, ein Drohnen-Pilot in den Gräben von Bachmut. «Ich bin ein Übersetzer für Chinesisch», erzählt der Ukrainer dem ukrainischen Kanal hromadske, während sein Kollege den Graben weiter aushebt. «Vor dem Krieg habe ich nirgendwo gegraben. Das ging mir ab. Aber ich habe viel gelernt. Ich musste es. Wir stecken in diesem Krieg für Jahrzehnte fest. Es wird noch ein paar Jahre weitergehen.»

«Wenn du graben kannst, überlebst du»

Was machen die ukrainischen Soldaten an der Front in Bachmut, wenn sie nicht schiessen? «Gräben ausheben», sagt Vodafone. «Befestigen.» «Das Graben ist essenziell», bestätigt sein Kamerad Gorynch. «Wenn du graben kannst, überlebst du. Wenn du es nicht kannst, wirst du es nicht. Man braucht Tausende [Gräben], um sich frei bewegen und einander decken zu können.»

Warum so ein Schützengraben Leben retten kann, zeigt ein Video sehr eindrücklich, das 12 Kilometer südlich von Bachmut beim Dorf Osarjaniwka entstanden sein soll. Da wird eine UR-77 Meteorit gegen russische Infanterie eingesetzt, die eigentlich ein Minenräumsystem ist: Sie verschiesst explosive Submunition, die eine Schneise freisprengt. Hier trifft sie anscheinend Munition – und löst eine tödliche Druckwelle aus.

In Bachmut selbst hat es keinen Rückzug der Wagner-Truppen gegeben, wie ihn Jewgeni Prigoschin angedroht hat. War sein Klagen über einen Mangel an Munition bloss fake? Wahrscheinlich nicht: Die ukrainischen Soldaten aus obigem Clip bestätigen, dass Wagner-Attacken weniger Artillerie-Unterstützung haben als Angriffe regulärer Soldaten.

In Bachmut brennt die Luft

Doch Prigoschins öffentliche Erpressung hat gewirkt: Seine Söldner sollen mehr Zubehör erhalten. Doch das kommt zu spät, um Bachmut bis zum heutigen Tag des Sieges zu erobern – zumal russische Aufmarschpunkte von ukrainischer Artillerie mit Himars und M777 unter schweres Feuer genommen wurden.

Während sich die Verteidiger im Norden der Stadt in Khrommove etwas Luft verschaffen konnten (siehe oben), nehmen die russischen Kräfte das westliche Wohnviertel mit seinen Hochhäusern ins Visier, in dem sich ukrainische Soldaten verschanzt haben. Dabei wird auch verbotene Brandmunition eingesetzt. Als es ihnen gelingt, in eines der Gebäude einzudringen, sprengt der Gegner es kurzerhand in die Luft.

Die Schlacht um Bachmut bleibt blutig. Kiew will nach eigenen Angaben in den letzten 24 Stunden 650 russische Soldaten und 13 Artillerie-Systeme ausgeschaltet haben. Prigoschin zufolge wird die ukrainische Offensive auch bei Bachmut stattfinden: Der Söldner-Chef rechnet mit einem Flankenangriff auf die belagernden Truppen in der heutigen Nacht.

Plant Kiew doch einen Vorstoss über den Dnjepr?

Weitaus mehr Spekulationen – auch auf russischer Seite – gibt es über einen Vorstoss Kiews im Süden. Vom Brückenkopf, den ukrainische Soldaten am linken östlichen Dnjepr-Ufer gebildet haben, dringen keine neuen Informationen nach aussen. Doch dafür werden Videos öffentlich, die implizieren, dass Nachschub unterwegs sein könnte.

Da wird nicht nur gezeigt, wie das Verlegen von Ponton-Brücken geübt wird, sondern auch der Transport von Mensch und Material über amphibische Fahrzeuge. Gleichzeitig räumt Russland im Oblast Saporischschja weitere Siedlungen, was die Erwartung einer Attacke unterstreicht.

Die «New York Times» berichtet, dass die Evakuierungen teilweise zu «Chaos und Knappheit» in der Region führten. «Es sind vor allem die Kollborateure, die gehen», sagt Artur Krupskyi, der ukrainische Verantwortliche der Gemeinde Polohy. «Viele von ihnen hoffen, zur Krim zu kommen.» In Enerhodar soll es kein Benzin mehr geben, heisst es weiter.

Waffen Update

Während bei Waffen der Fokus oft auf Material aus dem Westen liegt, wird mitunter übersehen, wie kreativ Kiews Kräfte diese adaptieren – oder eigene patente Waffen produzieren. So hat die Armee etwa die Hydra 70 bekommen, die in den späten 40ern entwickelt wurde. Die Boden-Luft-Rakete wird Zubehör zu einer lasergelenkten Präzisionswaffe, die nun sogar von mobilen Humvee-Jeeps abgefeuert werden kann.

Diese Fahrzeuge wären in einer Offensive ebenso hilfreich wie die neu aufgestellte Drohnenarmee, bestehend aus 8 Kompanien: Mychajlo Fedorow, der ukrainische Minister für digitale Transformation, betont, es sei dabei wichtig, dass die Drohnen im eigenen Land hergestellt würden.

Kiew setzt auf Drohnen-Unterstützung: Neu aufgestelltes Personal nebst Ausrüstung werden präsentiert.
Kiew setzt auf Drohnen-Unterstützung: Neu aufgestelltes Personal nebst Ausrüstung werden präsentiert.

Wie ein israelisches Mitglied der Inernationalen Legion bekannt macht, verfügt die ukrainische Armee nun auch über Radarsysteme vom Typ Rada ieMHR, das in seiner Heimat gebaut wird. Litauische Spender*innen haben den Kauf von 16 Exemplaren finanziert, von denen 3 bereits ausgeliefert sein sollen. Das leistungsstarke Radar erkennt auch sehr kleine Objekte. Der Export muss von Israels Regierung genehmigt worden sein.