Schinken als LuxusLebensmittelpreise in Ungarn auf Rekordkurs
AP/tpfi
23.4.2023
Nirgendwo in der EU sind Lebensmittel so viel teurer geworden wie in Ungarn. Viele müssen sich sehr genau überlegen, was sie in ihren Einkaufswagen packen. Fachleute sehen einen kritischen Punkt erreicht.
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23.04.2023, 16:00
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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
In Ungarn explodieren die Lebensmittelpreise.
Dr Preisanstieg betrug nach Angaben der EU-Statistikbehörde Eurostat im Laufe des Jahres mehr als 45 Prozent.
Die Landwirtschaft und die Lebensmittelverarbeitungsindustrie erweist sich als leistungsschwach.
Die drastische Abwertung der Landeswährung Forint treibt die Inflation nach oben.
Magdolna Gozon steht an einem Obst- und Gemüsestand in der historischen Grossmarkthalle von Budapest und nagt an einer grünen Peperoni. Sie will testen, ob die Schoten scharf genug sind für die Suppe, die sie kochen will. Fehlkäufe kann sich die 83-Jährige mit ihrer schmalen Rente nicht mehr leisten – denn in Ungarn schiessen die Lebensmittelpreise so stark in die Höhe wie nirgendwo sonst in der Europäischen Union. «Obst kaufe ich gar nicht mehr», sagt Gozon, das gleiche gelte für Milchprodukte und meistens auch für Fleisch.
In ganz Europa sind die Preise für Nahrungsmittel in den vergangenen Monaten dramatisch gestiegen. Im März lag das Plus bei 19,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Entwicklung ist der Haupttreiber der Inflation, seit die Energiekosten sinken. In Ungarn betrug der Anstieg nach Angaben der EU-Statistikbehörde Eurostat im Laufe des Jahres mehr als 45 Prozent und lag damit deutlich über dem des Landes mit der zweithöchsten Zunahme - der Slowakei mit knapp mehr als 29 Prozent.
Preisverdoppelung bei manche Produkten
Die ungarischen Verbraucherinnen und Verbraucher trifft das hart. «Die Gewohnheiten haben sich definitiv geändert, die Leute überlegen wirklich genau, was sie kaufen», sagt Szilvia Bukta, die in der Grossmarkthalle einen Verkaufsstand für Fleisch leitet. «Wir sind schon fast an dem Punkt, an dem Wurst und Schinken als Luxuslebensmittel gelten. Wir kaufen auch weniger ein, weil die Preise teurer sind, und wir wissen, dass nicht mehr so viele Kunden kommen.»
Bei manchen Essensprodukten in Ungarn hat sich der Preis im vergangenen Jahr fast verdoppelt. Grundnahrungsmittel wie Eier, Milch, Butter und Brot kosten 72 bis 80 Prozent mehr – und das in einem Land, in dem das durchschnittliche Nettoeinkommen bei lediglich rund 810 Euro im Monat liegt.
Dass Ungarn vom Preisanstieg infolge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine besonders stark betroffen ist, liegt nach Angaben von Peter Virovacz, Chefökonom bei der Bank ING Ungarn, unter anderem an Leistungsschwächen in der Landwirtschaft und der Lebensmittelverarbeitungsindustrie. Auch eine drastische Abwertung der Landeswährung Forint trage dazu bei, dass die «historische Inflation» höher sei als in der übrigen EU. «Überall gab es Dürren, die Energiepreise sind überall gestiegen, die Zulieferkosten sind überall gestiegen», sagt Virovacz. «Aber wenn die Produktion nicht effizient genug ist, sind die heimischen Produzenten von diesen Kosten natürlich viel stärker belastet.»
Höchste Inflationsrate in der EU
Um über die Runden zu kommen, haben nicht nur Bauern, sondern auch Restaurants, Bäckereien und andere Geschäfte ihre Preise angehoben und Angebote mit hohen Herstellungskosten aus dem Sortiment genommen. Die Restaurant-Bar «Café Csiga» im Zentrum von Budapest etwa hat Ende 2022 Hamburger und Pommes frites von der Speisekarte gestrichen. Grund waren die um bis zu 100 Prozent gestiegenen Preise für Zutaten wie Fleisch und Speiseöl, wie Geschäftsführer Andras Kelemen sagt: «Vor allem im Winter waren die Teuerungen für Gemüse und bestimmte Fleischsorten und Fleischprodukte unglaublich hoch.»
Die Entwicklung trieb die Inflationsrate im Land auf 25,6 Prozent und damit ebenfalls auf den höchsten Stand in der EU, wo sich der Durchschnitt im März auf 8,3 Prozent verlangsamt hat. Die steigenden Lebenshaltungskosten in Ungarn haben zu starken Lohnanhebungen geführt – zusätzliche Kosten, die Unternehmen teilweise an Kundinnen und Kunden weitergeben.
Ungarn müssen den Gürtel enger schnallen
Auch Eszter Roboz, Inhaberin der Bäckerei Babushka in Budapest, hat ihre Preise erhöht. Ausserdem backt sie manche Kuchen inzwischen mit Olivenöl, weil der Butterpreis im März um 68 Prozent in die Höhe kletterte. «Alle Zutaten sind teurer geworden, aber wir haben es bei Butter, Olivenöl und Mehl am deutlichsten zu spüren bekommen», sagt sie. Ungarn ist zwar ein wichtiger Produzent von Weizen, Mais, Ölsaaten und Fleisch, aber etwa 30 Prozent aller Lebensmittel in den Supermärkten sind importiert.
Doch nach Ansicht von Ökonom Virovacz wird der Einzelhandel womöglich nicht mehr lange seine höheren Einkaufskosten an die Konsumentinnen und Konsumenten weitergeben können. Denn die Menschen gäben weniger aus, da ihre Kaufkraft sinke und ihre Ersparnisse schrumpften, erklärt er. «Wir haben einen Punkt erreicht, an dem der Preisanstieg so hoch ist und die Rücklagen so stark aufgezehrt sind, dass die Menschen wirklich angefangen haben, den Gürtel enger zu schnallen und viel weniger zu konsumieren.»