PolitikLehrkräftemangel und Ukraine-Krieg prägen Schulbeginn 2022
bo, sda
12.8.2022 - 10:01
In 15 Kantonen beginnt am Montag das neue Schuljahr. Es steht im Zeichen des akuten Lehrermangels sowie der Integration der Kinder aus der Ukraine. Vor allem in der Deutschschweiz geht es nur dank Aushilfen ohne Lehrerdiplom. Zudem steigen die Schülerzahlen.
12.08.2022, 10:01
SDA
So drücken etwa im Kanton Aargau, wo die Schule bereits am 8. August angefangen hat, erstmals über 80'000 Kinder die Schulbank im neuen Jahr. Das sind rund zehn Prozent mehr als vor sechs Jahren.
Im Kanton Thurgau werden sich am kommenden Montag insgesamt 31'300 Kinder und Jugendliche vom Kindergarten bis zur Sekundarschule auf den Schulweg machen. Damit wächst dort die Zahl der Schülerinnen und Schüler im Vergleich zum Vorjahr um 2,2 Prozent. Dazu kommen rund 500 vorübergehend aufgenommene Kinder und Jugendliche aus der Ukraine. Das ergibt im Ostschweizer Kanton insgesamt ein Wachstum von vier Prozent.
Im Kanton Zürich gehen am 22. August 31'500 Kinder zum ersten Mal in den Kindergarten oder die Schule. Insgesamt gehen laut kantonaler Bildungsstatistik rund 4500 Kinder mehr in die Volksschule als vor Jahresfrist, total rund 157'500.
BE: Jede zehnte Lehrperson ohne Diplom
So mussten vielerorts Pensen aufgestockt oder Personen ohne entsprechende Diplome angestellt werden. Jede zehnte Lehrperson hat beispielsweise im Kanton Bern bei Schulbeginn keinen entsprechenden Ausweis. Etwas Entlastung bringen soll die Ausweitung des Konzeptes der Klassenhilfen auf alle Stufen der Volksschule. Zudem sollen die Lehrkräfte von administrativen Aufgaben entlastet werden.
Der Kanton Zürich, wo die Schule wie in vielen Kantonen der Romandie erst am 22. August wieder beginnt, hat in der Not hunderte Aushilfslehrerinnen und -lehrer engagiert. Ausnahmsweise dürfen in diesem Schuljahr auch Personen unterrichten, die über kein Lehrerdiplom verfügen.
Entspannter präsentiert sich die Lage im Kanton Neuenburg. Trotz angespannter Situation gibt es dort keine Lehrermangel. Dort hat man bereits Anfang der 2000er-Jahre einen möglichen Mangel vorausgesehen und die Zahl der Studierenden an der Pädagogischen Hochschule erhöht.
Kerngeschäft der Lehrer leidet
Mit den insgesamt ansteigenden Schülerzahlen sinkt die Anzahl der Lehrpersonen. Lehrerinnen und Lehrer der Babyboomer-Generation kommen reihenweise ins Pensionsalter, gleichzeitig harzt es beim Nachrutschen des Nachwuchses, auch wenn die Ausbildungszahlen gemäss Lehrerverband eigentlich erfreulich sind.
Viele Aspirantinnen und Aspiranten werfen allerdings kurz nach Stellenantritt den Bettel schon wieder hin, weil sie sich überfordert fühlen ob all der Ansprüche, die sie neben ihrem eigentlichen Lehrauftrag erfüllen können müssen: zu viele administrative Aufgaben, viele Absprachen mit anderen schulnahen Institutionen, Integration von immer mehr Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten.
Fast alle Kantone müssen angesichts dieser Ausgangslage auf ungenügend qualifiziertes Personal zurückgreifen, um die Lücken wenigstens einigermassen zu füllen. Eine Schweizer Lehrerin brachte es jüngst in einem Interview mit der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit» auf den Punkt: «Mein Kerngeschäft wäre es, den Kindern etwas beizubringen. Manchmal komme ich aber kaum dazu.»
Der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) schlug Anfang der Woche kurz vor Schulbeginn ebenfalls Alarm. Der Lehrermangel sei «schlimmer denn je». Wegen des Personalmangels betreuten die Schulen in der Schweiz die Kinder zunehmend statt sie auszubilden. Nicht qualifizierte Lehrpersonen brächten aber eher eine Mehrbelastung als eine Entlastung.
Vorwürfe an die Kantone
An die Kantone als Inhaber der Bildungshoheit richtete LCH-Präsidentin Dagmar Rösler den Vorwurf, der demografischen Entwicklung untätig zugesehen zu haben: Viele Lehrkräfte der geburtenstarken Jahrgänge kommen ins Pensionsalter, die Schülerzahlen steigen an – das sei absehbar gewesen. Zusätzlich erschwere die Integration der Kinder aus der Ukraine die Lage.
Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK) schreibt auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA, sie habe keinen politischen Auftrag im Zusammenhang mit dem Lehrermangel. Entsprechend verzichte sie auf eine Einschätzung der Kritik der Lehrerverbände.
Die Rekrutierung, die Prüfung der Anstellungsvoraussetzungen, die Entlöhnung und unterstützende Massnahmen seien Sache der einzelnen Kantone. Die EDK hält in ihrer Stellungnahme aber fest, dass sich die Anstellungsbedingungen für Lehrerinnen und Lehrer in mehreren Kantonen verbessert haben in den vergangenen Jahren.
72 Prozent arbeiten nicht Vollzeit
Die Kantone hätten zudem einiges unternommen, um Interessierte für den Lehrerberuf zu begeistern. Sie hätten entsprechende Kampagnen lanciert oder Studiengänge für Quereinsteiger entwickelt. Die EDK habe mit der Weiterentwicklung des Anerkennungsrechts von Diplomen ebenfalls einen Beitrag an die Gewinnung von Lehrkräften geleistet.
Laut Bildungsbericht 2018 wäre das Problem des Lehrermangels gelöst, wenn alle Lehrpersonen ihr Pensum um zehn Prozent aufstocken würden. Experten halten das aber nicht für praktikabel, ebenso zwingende Mindestpensen wie etwa im Kanton Genf.
Laut Bundesamt für Statistik (BFS) arbeiten 44 Prozent der Lehrkräfte in einem Pensum zwischen 50 und 89 Prozent, gut 28 Prozent weniger als 50 Prozent. In diesem Zusammenhang macht die Rede von der «Flucht in die Freizeit wegen der Reformkaskade und Verbürokratisierung» die Runde.
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