Beirut ein Jahr nach der Explosion «Wir haben keine Regierung»

Von Gil Bieler

3.8.2021

Wirtschaftskrise, Inflation, Versorgungsengpässe: Ein Jahr nach der vernichtenden Explosion im Hafen von Beirut ist die Not der Bevölkerung immer noch gross. Ein Hauptstädter berichtet vom Leben in der Dauerkrise.

Von Gil Bieler

3.8.2021

Michel Saad blieb unverletzt, als im Hafen von Beirut am 4. August 2020 tonnenweise Chemikalien explodierten. Trotzdem leidet er bis heute unter den Folgen der Katastrophe. Und zwar massiv. Seine Wohnung im Viertel Archrafieh nahe der Küste wurde zerstört, ebenso die Bar, die er betreibt.

«Ich habe noch nie derartige Zerstörung gesehen», schilderte er damals «blue News» seine ersten Eindrücke. Ein Jahr später kontaktieren wir ihn erneut, um nachzufragen, wie es ihm seither ergangen ist.

Beide Gebäude hat Michel wieder aufgebaut, die Bar konnte nach acht Monaten sogar wieder eröffnen. Es war jedoch alles andere als einfach – und ohne Unterstützung und private Verbindungen auch gar nicht möglich gewesen, sagt Michel. Vom Staat komme keinerlei Hilfe: «Wir haben keine Regierung», hält er fest.

Versagen der Machtelite

Der Libanon versank schon vor der Katastrophe vom 4. August 2020 in einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise, und seither hat sich nichts zum Besseren verändert. Die Weltbank spricht von einer der schlimmsten wirtschaftlichen Krisen seit 1850. Sie macht dafür das Versagen der politischen und wirtschaftlichen Elite des Mittelmeerlandes verantwortlich.

Der Staat ist pleite, die Wirtschaft liegt am Boden. Die Landeswährung, die libanesische Lira, implodiert geradewegs. «Zehn Millionen Lira waren früher einmal 6000 Dollar wert. Jetzt sind es noch 300 Dollar», berichtet Michel.

Die Folgen von alledem sind für Schweizer*innen nur schwer vorstellbar. Viele Produkte sind im Libanon kaum zu bekommen, oder wenn, dann nur zu extrem hohen Preisen. Etwa Barstühle, wie in Michels Fall. «Alle meine Ersparnisse sind aufgebraucht», sagt der Libanese und muss hörbar um Fassung ringen. «Ich starte bei null.»

Michel Saad hat seine Wohnung und seine Bar wieder aufgebaut, aber seine Ersparnisse sind weg.
Michel Saad hat seine Wohnung und seine Bar wieder aufgebaut, aber seine Ersparnisse sind weg.
Bild: zVg

Auch der Alltag der Libanesinnen und Libanesen ist von Mangel geprägt. «Wir haben kein Benzin, der Strom fällt dauernd aus, es gibt nicht einmal Medikamente gegen Kopfschmerzen», klagt Michel. Seine Mutter sei auf Medikamente angewiesen, die im Land nicht verfügbar seien. Er bestellt diese an die Adresse eines Bekannten in Dubai, der sie dann bei seinen Besuchen vorbeibringt.

Dass auch noch mitten in der Sommerhitze der Strom knapp wird, trifft die Leute ebenfalls hart: «Wir haben Temperaturen von bis zu 40 Grad. Ohne Klimaanlage können wir in der Nacht nicht schlafen», sagt Michel. Er klingt erschöpft.

Noch kein Ende in Sicht

Und die Krise ist noch lange nicht ausgestanden. Die Weltbank schreibt in einem Bericht, es sei «kein eindeutiger Wendepunkt am Horizont» zu erkennen. Michel sieht das ähnlich: Bis eine Lösung gefunden sei, werde es sicher mindestens noch zwei Jahre dauern, glaubt er. «Die Situation ist wirklich schlimm.»

Zum Ende des Gesprächs fleht er regelrecht: «Bitte, wir brauchen dringend Hilfe. Schreiben Sie das in Ihrem Artikel. Wir brauchen hier Hilfe. Ich brauche Hilfe!»

Glückskette hat 7,6 Millionen Franken für den Libanon gesammelt

Die Glückskette hat für Hilfsprojekte an die Opfer der Explosion im Hafen von Beirut vor einem Jahr bereits sechs Millionen Franken eingesetzt. Insgesamt hatte die Organisation 7,6 Millionen Franken Spendengelder erhalten. Direkt nach der Explosion hätten fünf Partnerorganisationen Nothilfe-Projekte lanciert, wie die Glückskette am Dienstag mitteilte. Sie verteilten Lebensmittel, Wasser und weitere lebensnotwendige Güter, versorgten Verletzte und nahmen Reparaturen an schwer beschädigten Häusern vor. In einer zweiten Phase haben die Partnerorganisationen laut der Mitteilung an der Wiederinstandstellung von Häusern, dem Wiederaufbau von Lebensgrundlagen, der Ernährungssicherheit sowie an Schutz und Bildung gearbeitet. Danach sei die Hilfe auf Haushalte, Familien und Einzelpersonen ausgeweitet worden, die sich in einer prekären Lage befanden. In den kommenden Monaten werde die verbleibenden Mittel weiteren Hilfsprojekten für die Bevölkerung zugesprochen. (sda)

Riesige Silos im Hafen von Beirut zeugen auch ein Jahr später noch von der verheerenden Explosion, die sich am 4. August 2020 ereignet hat. 
Riesige Silos im Hafen von Beirut zeugen auch ein Jahr später noch von der verheerenden Explosion, die sich am 4. August 2020 ereignet hat. 
Bild: EPA/Wael Hamzeh