US-Soldaten beschuldigt Mehr als eine Million Hinweise auf Kriegsverbrechen in Afghanistan

Von Kathy Gannon, AP

17.2.2018

Schoaib zeigt am 9. Februar 2018 ein Foto seine Vaters auf seinem Laptop.
Schoaib zeigt am 9. Februar 2018 ein Foto seine Vaters auf seinem Laptop.
Bild: Rahmat Gul/AP/dpa

Gut zwei Monate lang sammelte der Internationale Strafgerichtshof Material über die Gewalt in Afghanistan. Die Zahl der mutmasslichen Opfer schwerer Verbrechen ist demnach überwältigend. Eine offizielle Aufnahme von Ermittlungen wäre trotzdem politisch sehr heikel.

Die Aussagen betreffen vor allem Gräueltaten von Extremisten. Doch IS-Kämpfer und die Taliban sind bei Weitem nicht die einzigen, die in Afghanistan Kriegsverbrechen begangen haben sollen. Das zeigt eine Voruntersuchung des Internationalen Strafgerichtshofs.

Insgesamt gingen Berichte von 1,17 Millionen Opfern in Den Haag ein.
Beschuldigt werden darin auch die Sicherheitskräfte des Landes, regierungsnahe Warlords, Soldaten der von den USA angeführten internationalen Koalition und mehrere Geheimdienste.

Die Aussagen seien vom 20. November 2017 bis zum 31. Januar 2018 von verschiedenen Gruppen in Afghanistan sowie in Europa gesammelt und dann an das Gericht weitergeleitet worden, sagt Abdul Wadood Pedram von der Human Rights and Eradication of Violence Organization. Da es sich in vielen Fällen um Verbrechen mit etlichen Opfern handle, liege die Gesamtzahl der Afghanen, die in Den Haag auf Gerechtigkeit hofften, wohl sogar bei mehreren Millionen.

«Es ist schockierend, dass es so viele sind»

«Es ist schockierend, dass es so viele sind», sagt Pedram. Und es zeige sehr deutlich, dass die Betroffenen und ihre Familien vom Justizsystem in Afghanistan im Stich gelassen würden. Die Richter in Den Haag müssen nun unter anderem auf Grundlage der vielen Aussagen über die Aufnahme von eigenen Ermittlungen entscheiden. Wann ein entsprechender Beschluss gefasst werden könnte, ist allerdings unklar.

Der ICC (International Criminal Court) veröffentlicht keine Details über die Betroffenen oder über die Gruppen, von denen die Aussagen zusammengetragen wurden. «Ich kenne die Namen der Organisationen», sagt Pedram. «Aus Sicherheitsgründen wollen wir sie aber nicht nennen. Denn sonst würden sie zum Ziel von Angriffen.»

Die Nachrichtenagentur AP konnte mit einem Mann sprechen, der sich zu seinem eigenen Schutz nur unter seinem Vornamen Schoaib zu erkennen geben wollte. Sein Vater, Naimatullah, habe im Jahr 2014 in der Provinz Ghor in einem von drei Bussen gesessen, die von bewaffneten Männern gestoppt worden seien. Die Angreifer hätten die Ausweise der Passagiere kontrolliert und dann die 14 Schiiten unter ihnen getötet.

«Bitte verratet nicht, wo ich lebe»

Die Überfälle hatten damals für grosses Entsetzen gesorgt. Wenig später wurde ein Kommandeur der Taliban festgenommen und den Medien präsentiert. Über einen Prozess oder eine Strafe sei aber nie berichtet worden, sagt Schoaib. Der junge Afghane hat ein Foto des Mannes, den er für den Mörder seines Vaters hält. An die Behörden könne er sich nicht wenden, um nach Informationen zu fragen, betont er. Denn der Kommandeur habe gute Beziehungen zur Polizei und zur Regionalregierung.

Noch immer habe er Angst, sagt Schoaib. «Bitte verratet nicht, wo ich lebe und zeigt nicht mein Gesicht», fleht er die Reporter an. «Was, wenn sie mich finden?» Dann sei er in grosser Gefahr. «Wenn man in Afghanistan Geld hat, dann kann man es irgendwem irgendwo geben und mit allem davonkommen.»

Nach Angaben von Pedram sollen mehrere Warlords, die nach dem Zusammenbruch des Taliban-Regimes durch das internationale militärische Eingreifen im Jahr 2001 an die Macht gekommen waren, Kriegsverbrechen begangen haben. Konkreter wird der in Kabul lebende Aktivist aber nicht.

«Die Warlords sind überall. Daher muss man sehr vorsichtig sein», sagt er. Nach Morddrohungen im vergangenen Jahr sei er für einige Zeit aus der Stadt geflüchtet. Nun halte er sich bedeckt und spreche nicht mehr mit örtlichen Medien. «Morgens gebe ich meinem kleinen Sohn und meiner Frau einen Kuss. Denn ich weiss nicht, was mir wann passiert – und ob ich sie wiedersehen werde.»

Auch US-Soldaten sollen beteiligt sein

Der ICC wurde 2002 eingerichtet, um auf globaler Ebene Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermorde zu ahnden. Afghanistan hat das sogenannte Römische Statut des Gerichtshofs im Mai 2003 ratifiziert.

Sollte es zu Ermittlungen kommen, können sich die Richter mit mutmasslichen Verbrechen aus der Zeit seitdem befassen. Was die Arbeit aber in jedem Fall erheblich behindert dürfte, ist die Tatsache, dass die USA den ICC nicht anerkennen. Präsident Bill Clinton hatte die Verträge in seiner Amtszeit zwar unterzeichnet. Sein Nachfolger George W. Bush machte die Unterschrift jedoch wieder rückgängig.

Die Chefanklägerin Fatou Bensouda erklärte im November, es gebe Belege dafür, dass auch «von Angehörigen der Streitkräfte der USA auf afghanischem Boden und vom US-Geheimdienst CIA in geheimen Gefängnissen in Afghanistan» sowie in Ländern, die das Römische Statut unterzeichnet hätten, Kriegsverbrechen begangen worden seien. Die geheimen Gefängnisse seien überwiegend in den Jahren 2003 und 2004 betrieben worden, sagte Bensouda. Der ICC habe bisher allerdings nur Berichte über Kriegsverbrechen aus der Zeit seit 2006 näher geprüft.

Ende der Straflosigkeit?

Ermittlungen des ICC seien eine Möglichkeit, die «nahezu vollständige Straflosigkeit» in Afghanistan zu durchbrechen, betonte die Chefanklägerin. Während die USA das Gericht in Den Haag zwar nicht anerkennen, könnten amerikanische Staatsbürger durchaus wegen möglicher Kriegsverbrechen auf dem Boden von Mitgliedstaaten belangt werden. Washington hat allerdings bereits heftigen Widerstand gegen jede «Einmischung» des ICC in Afghanistan angekündigt.

Für viele Afghanen ist der ICC aber die einzige Hoffnung – so auch für Hussain Rasaee, dessen Verlobte Nadschiba unter den 30 Opfern eines Selbstmordanschlags der Taliban im vergangenen Juli war. «Ich glaube nicht, dass die internationale Gemeinschaft irgendeinen der Warlords oder die Taliban zur Rechenschaft ziehen wird», sagt er. «Aber wenn ein internationales Gericht auf der Grundlage von Gesetzen ein Urteil fällt, könnte die Regierung gezwungen sein, dies zu befolgen.»

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