Alltag unter russischer Besatzung «Vielleicht wirst du entführt, vielleicht fliegt eine Rakete ins Haus»

Red/smi

27.11.2022

Eine Grossmutter und ihre Enkelin umarmen sich in Cherson kurz nach dem Ende der russischen Besatzung. 
Eine Grossmutter und ihre Enkelin umarmen sich in Cherson kurz nach dem Ende der russischen Besatzung. 
Bild: Keystone/EPA/Oleg Petrasyuk

Ein Interview aus Cherson, kurz vor der Befreiung durch die Ukraine: Ein junger Mann erzählt, wie der Alltag auf der anderen Seite der Front ausgesehen hat. In den weiterhin besetzten Gebieten dauert der Horror an.

Red/smi

27.11.2022

Wie leben Sie unter russischer Besatzung?

Das ist schwer zu beschreiben. Du kannst dir das nicht vorstellen, wenn du nie so etwas erlebt hast. Die meisten Menschen sind dauernd unter Stress. Du denkst nur an den Tag, der gerade ist. Du weisst nicht, ob du morgen von den Russen in einen Keller verschleppt wirst oder ob dir eine Rakete ins Haus fliegt. 

Wie ist der Kontakt zu den Russen?

Wir leben unter ständigem psychischen Druck der russischen Armee. Sie verlangt, dass wir die Besatzungsmacht respektieren. Jeden Tag werden Menschen entführt. Einige sind nicht zurückgekehrt, andere haben erzählt, dass sie in Kellern gefoltert worden sind.

Was können Sie uns noch über den Alltag erzählen?

Es herrscht die totale russische Propaganda. Ausserdem ist alles drei- bis viermal teurer, selbst lebenswichtige Dinge. Ich könnte noch viel aufzählen, aber das sind die wichtigsten Dinge, die uns jeden Tag beschäftigen.

Wie gross sind die Schäden in Cherson?

Die Stadt hat nicht so gelitten wie zum Beispiel Bachmut oder Mariupol, aber es gibt zerstörte Bauten in jedem Bezirk.

Warum sind Sie nicht in ukrainisch kontrolliertes Gebiet geflohen?

Ich habe keinen Ort, an den ich gehen kann. Das macht die Flucht noch teurer. Zudem habe ich eine ältere Verwandte, mit der es fast unmöglich ist, diese Reise zu machen. Menschen, die weggegangen sind, erzählen von Filtrationscamps der Russen. Nachdem sie eines davon passiert haben, haben viele zwei bis drei Wochen warten müssen, bis sie eine Transportmöglichkeit fanden. Während dieser Zeit leben die Menschen auf freiem Feld. Ich habe Angst davor, dass mir die Russen den Pass wegnehmen und mich irgendwo auf ihr Territorium schicken. Es ist sehr schwierig zu fliehen.

Haben Sie Angst, in die russische Armee eingezogen zu werden?

Das ist wahrscheinlich das Schlimmste, das einem passieren kann. Es ist der sichere Tod, das wissen alle hier. Sie drücken dir zum Beispiel eine Schaufel in die Hand und schicken dich damit zum Minenräumen.

Was hat sich geändert, seit Putin in den besetzten Gebieten das Kriegsrecht verhängt hat?

In Cherson hat sich nichts geändert. Das Chaos war schon da, das Chaos bleibt. Verbote der Bewegungsfreiheit gab es schon vorher und es gibt sie immer noch. Ich denke, Putin hat das Kriegsrecht verhängt, um offiziell zu machen, dass in der Ukraine Krieg geführt wird.

Haben Sie Angst davor, dass der Damm des Wasserkraftwerks Nowa Kachowa bricht und Cherson überschwemmt werden könnte?

Zuerst war die Rede von Atomwaffen, dann von einer schmutzigen Nuklearbombe, dann von biologischen Waffen. Diese würden dazu führen, dass das Getreide nicht zum Verzehr freigegeben werden kann. Ich sehe das alles als Erpressungsversuche. Das Leben ist nicht ewig, was passieren wird, wird passieren. Wir versuchen, auf verschiedene Situationen vorbereitet zu sein.

Wenige Tage nach diesem Gespräch haben sich die russischen Truppen aus Cherson zurückgezogen. Die Stadt im Süden der Ukraine wird seither wieder von Kiew regiert. In anderen Teilen der Ukraine dauert die Besatzung an.