Gewaltspirale Neue Fronten machen Krieg in Syrien unberechenbar

Zeina Karam, AP

15.2.2018

In vielen Teilen Syriens ist die Lage inzwischen stabil. An anderen Orten wird dafür nun umso heftiger gekämpft. Regierungssoldaten, Milizen und ausländische Truppen geraten dabei in ganz neuer Art aneinander.

Die Terrormiliz IS war lange der gemeinsame Feind. Seit die Extremisten in Syrien weitgehend besiegt sind, wenden sich die Akteure allmählich neuen Zielen zu. Und zum Teil bilden sich dabei Fronten, die noch weit gefährlicher werden könnten als alles Bisherige. Im Norden ist die Türkei mit Truppen einmarschiert.

Im Süden liefern sich Israel und der Iran einen Kampf um die Lufthoheit. Im Osten werden Amerikaner in Gefechte verwickelt. Das Regime geht derweil brutal gegen die verbliebenen Rebellen vor.

Das Chaos der vergangenen Woche war selbst für syrische Verhältnisse dramatisch. Innerhalb von wenigen Tagen schossen islamistische Milizen einen russischen Kampfjet und kurdische Kämpfer einen türkischen Hubschrauber ab. Die israelische Luftwaffe schoss eine iranische Drohne vom Himmel, griff Ziele auf syrischem Boden an und verlor dabei selbst einen F-16-Jet. 

Ankara hat für neue Eskalation gesorgt

In der Enklave Ost-Ghuta und in der Provinz Idlib töteten die Truppen von Präsident Baschar al-Assad mit Unterstützung Russlands hunderte Zivilpersonen. Berichten zufolge setzte das Regime erneut Giftgas ein.

Gerade weil sich der Bürgerkrieg in seiner bisherigen Form einem Ende zu nähern schien, dreht sich die Spirale der Gewalt aktuell fast noch schneller. Denn alle Konfliktparteien wollen für die erwartete Phase der Neuordnung in Syrien offenbar ihre Interessen sichern - nicht nur die Assad-Verbündeten Russland und Iran, sondern auch Israel, die USA und vor allem die Türkei.

Ankara sorgte am 20. Januar für eine neue Eskalation in dem seit fast sieben Jahren anhaltenden Krieg. Mit einer Bodenoffensive im nordwestlichen Afrin will die Türkei die kurdische Miliz YPG zurückdrängen, die sie als eine terroristische Organisation bezeichnet. Die YPG zählt in Syrien allerdings auch zu den wichtigsten Partnern der USA. Gerade im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat haben sich die Kurden in den vergangenen Jahren sehr um die Ziele des Westens verdient gemacht.

Humanitäre Lage in der betroffenen Region katastrophal

Die Offensive sorgt somit auch innerhalb der Nato für erhebliche Spannungen. Trotzdem droht Ankara, von Afrin aus noch weiter in Richtung Osten vorzurücken - und zwar bis zu der syrischen Stadt Manbidsch, in der die amerikanischen Truppen eigene Stützpunkte haben. Washington hat bereits offen kritisiert, dass die Türkei mit der Operation den Kampf gegen den IS behindere.

Nach Angaben der Menschen vor Ort ist die humanitäre Lage in der Region katastrophal. Neben mehr als 160 kurdischen Kämpfern sollen auch etwa 80 Zivilpersonen ums Leben gekommen sein. Ankara hat nach eigenen Angaben bisher 31 Soldaten verloren.

Assad hält sich in Afrin weitgehend raus. Moskau und Damaskus konzentrieren sich stattdessen auf die Opposition im weiter westlichen Idlib und im nahe der Hauptstadt gelegenen Ost-Ghuta. Beide Gebiete wurden zuletzt wieder heftig aus der Luft bombardiert. In dem von allen Seiten belagerten Ost-Ghuta sind fast 400'000 Menschen der Gewalt nahezu schutzlos ausgeliefert. In Idlib, dem grössten verbliebenen Rebellengebiet, leben mindestens zwei Millionen Menschen.

Erster israelischer Kampfflieger seit 1982 abgeschossen

Der UN-Menschenrechtsbeauftragte Said Raad al-Hussein sagte am Samstag, die zurückliegende Woche sei «eine der blutigsten Phasen des gesamten Konflikts» gewesen. Er rief die internationale Gemeinschaft deswegen dringend zum Handeln auf. Nach seinen Angaben wurden in Idlib und Ost-Ghuta allein vom 4. bis zum 9. Februar neun medizinische Einrichtungen angegriffen und insgesamt 277 Zivilpersonen getötet.

Die neue Eskalation im Süden könnte im schlimmsten Fall noch ganz andere Dimensionen erreichen. Am Samstag teilte Israel mit, die Streitkräfte des Landes hätten eine iranische Drohne abgeschossen, die in den israelischen Luftraum vorgedrungen sei. Bei anschliessenden Angriffen auf iranische Ziele in Syrien sei ein eigener Kampfjet von der syrischen Luftabwehr getroffen worden. Es war der erste Abschuss eines israelischen Kampfflugzeugs seit 1982.

Israel hat oft betont, es werde iranische Stützpunkte in der Nähe seiner Grenze nicht dulden. Die insgesamt mehr als hundert israelischen Luftangriffe in Syrien waren in den vergangenen Jahren ohne Gegenwehr geblieben. Die syrische Regierung und ihre Verbündeten erklärten nun, mit dem Abschuss der F-16 seien neue Regeln festgelegt worden. Die «neue Phase im Syrienkonflikt» lasse den Kampf gegen den IS wie einen «Spaziergang im Park» erscheinen, sagt Bilal Saab von dem in Washington ansässigen Middle East Institute. «Dies könnte in einen regionalen Krieg ausarten.»

Rolle der USA birgt grosses Risiko

Auch die Rolle der USA birgt ein grosses Risiko. Anfang des Jahres bestätigte Washington, auch nach einem Sieg gegen den IS auf unbestimmte Zeit mit Truppen vor Ort präsent bleiben zu wollen. Es gehe nicht nur darum, ein erneutes Erstarken der Terrormiliz zu verhindern, sondern auch um eine Eindämmung des Einflusses Teherans, hiess es.

Die laut Schätzungen etwa 2000 US-Soldaten in Syrien hielten sich bisher eher im Hintergrund, etwa als Berater und Ausbilder. Vor wenigen Tagen wurde allerdings deutlich, dass die Amerikaner angesichts der neuen Gemengelage im Land auch gegen ihren Willen sehr schnell in unmittelbare Kampfhandlungen verwickelt werden können. 

Eine regimetreue Miliz attackierte im östlichen Dair as-Saur eine Einheit, die von US-Beratern begleitet wurde. Die Amerikaner reagierten mit massivem Beschuss. Mehr als hundert Angreifer wurden nach Angaben der USA getötet - Moskauer Medien berichteten am Dienstag, dass auch Russen unter den Opfern gewesen seien.

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