Anschlag in Wien «Schleich di!» – neun Minuten Terror im Herzen der Stadt

Von Christina Peters und Sandra Walder, dpa/uri

3.11.2020

Dutzende Schüsse schlagen in einem belebten Wiener Ausgehviertel ein, gerade als die Menschen die letzten Stunden vor dem Coronalockdown geniessen. Am Ende sind mindestens vier Menschen tot. Am Tag danach herrscht noch Ausnahmezustand.

Der unscheinbare Steinbrocken auf dem Boden zeugt von der blutigen Spur des Terrors. Ein Schuss hat ihn aus dem Türrahmen einer Stuckfassade am Wiener Salzgries gesprengt. Das angrenzende kleine Labyrinth von Gassen voller Kneipen, das sie Wiener Bermudadreieck nennen, ist am Dienstag abgesperrt. Jeden Zugang bewachen Polizisten.

Vor der Hauptsynagoge in der Seitenstettengasse nahm die Terror-Nacht von Wien ihren Ausgang. Ein Mann feuerte laut Zeugen am Montagabend gegen 20 Uhr wahllos in die Lokale, zieht danach weiter durch die Strassen. «Plötzlich fielen Schüsse, erst so 20, dann acht und dann wieder 20», schildert ein Augenzeuge gegenüber der Nachrichtenagentur APA. Er habe das Geschehen anfangs gar nicht einordnen können. «Wer denkt denn in Wien an einen Anschlag?»

Mindestens vier Menschen werden tödlich getroffen, über ein Dutzend sind teils schwer verletzt. Um 20:09 Uhr erschiesst ein Polizist den Attentäter. Die Stadt geht in den Ausnahmezustand – zunächst ist von mindestens einem weiteren bewaffneten Täter die Rede.



Ausgerechnet an einem milden Abend in den letzten Stunden vor dem zweiten Coronalockdown in Österreich, ausgerechnet in der Ausgehmeile zwischen Wiens historischer Altstadt und dem Donaukanal – der Attentäter hätte kaum einen belebteren Ort finden können. Die Terrassen der Lokale sind voll, scharenweise stehen Menschen an so einem Abend um die Würstelstände am trubeligen Verkehrsknoten Schwedenplatz.

«Wir sind losgerannt»

Plötzlich ist alles vorbei. An einem der markanten U-Bahn-Eingänge sackt auf einem Augenzeugenvideo ein Mann zusammen, von Schüssen getroffen. Das Bild einer Blutlache vor einem Lokal prangt am Dienstag auf den Titelseiten gleich mehrerer Boulevardblätter.

«Wir sind losgerannt», sagt eine 30-Jährige, die am Montagabend nur ein paar Gassen entfernt mit drei Freunden vor einer Bar sass. Am Dienstagvormittag sitzt sie etwas verloren auf der Bank einer fast ausgestorbenen Einkaufsstrasse und isst Fast Food aus einer Tüte – «das mache ich immer, wenn ich Stress fühle». Die Kellnerin habe kassieren wollen, weil etwas passiert sei, erzählt sie. Dann, so berichtet sie, wurde es laut, Polizisten riefen den Gästen zu, die Strassen zu verlassen. Im Chaos habe sie ein Mann in ein Bürogebäude gewunken, etwa zu zehnt harrten sie dort bis in die frühen Morgenstunden aus.

Polizeibeamte patrouillieren am frühen Morgen auf einer abgesperrten Strasse im Wiener Stadtzentrum.
Polizeibeamte patrouillieren am frühen Morgen auf einer abgesperrten Strasse im Wiener Stadtzentrum.
Bild: dpa

Am Morgen sind nur wenige Passanten unterwegs, im ersten Bezirk Wiens herrscht überhaupt grosse Stille. «Bleiben Sie zu Hause, die Gefahr ist noch nicht gebannt», schärften der Bundeskanzler und der Wiener Bürgermeister in der Nacht ein. Einsatzkräfte der Militärpolizei stehen in den Gassen, schwer bewaffnete Polizisten auf dem grossen leeren Platz vor dem Stephansdom. Verschiedensprachige Nachrichtencrews warten auf ihren Einsatz. Offizielle Entwarnung gibt es auch am Dienstagmittag noch nicht, zu viele Fragen sind noch offen.

«Es stellen sich nun drängende Fragen»

«Schockiert sind wir, es ist eine völlige Katastrophe», sagt ein 45-Jähriger. Am Dienstagmorgen will er in seinem Lokal nach dem Rechten schauen, das nun wegen des Coronalockdowns geschlossen hat. Am Abend harrten auch bei ihm etwa 35 Gäste mit Kellnern bis um 2 Uhr morgens aus, wie er sagt. «Wir alle wollten doch noch ein bisschen Freiheit vor dem Lockdown geniessen», sagte eine 60-Jährige auf dem Weg ins Büro. Angst habe sie nicht. «Es kann überall passieren, damit muss man rechnen», sagt sie. «Ich habe den Eindruck, dass das Innenministerium und die Polizei das gut im Griff haben.»

Aber auch die Sicherheitsbehörden geraten in den Fokus, als dann die Identität des erschossenen Angreifers feststeht. Der 20-jährige Kujtim Fejzulai hatte eine alles andere als unauffällige Vergangenheit. Er habe nach Syrien ausreisen wollen, um sich der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) anzuschliessen, erklärte das Innenministerium. Im April 2019 wurde der gebürtige Wiener mit österreichischem und nordmazedonischem Pass wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu 22 Monaten Haft verurteilt, Anfang Dezember aber vorzeitig entlassen.

«Es stellen sich nun drängende Fragen: Wieso konnte ein amtsbekannter und schwer vorbestrafter Islamist mit dem IS Kontakt aufnehmen? Wo und wie konnte er die Waffen beschaffen? Wen lernte er im Knast kennen?», fragt Florian Klenk, Chefredakteur des Wiener Stadtmagazins «Falter» und einer der angesehensten Journalisten des Landes, auf Twitter.

Ein Wiener Anschlag mitten ins Wiener Herz – trotz aller Fassungslosigkeit reagiert die Stadt auf ihre eigene Art und Weise. «Schleich di, du Oarschloch», rief ein Wiener aus seinem Fenster dem schiessenden Attentäter hinterher. Der Moment, auf Video eingefangen, ging viral als Symbol für die Widerstandsfähigkeit der Stadt. Ein anderer Mann soll einem Terroristen eine Vase nachgeworfen haben.

Kampfsportler helfen älterer Dame

Die am Abend vor dem Lockdown bei letzten Aufführungen besonders voll besetzten Kulturhäuser gingen ebenfalls stoisch mit der Lage um. Star-Percussionist Martin Grubinger, der vor rund 1’000 Menschen im Konzerthaus spielte, erhielt schon früh während seines Auftritts Informationen der Polizei über die Anschläge. Die Beamten baten ihn, weiterzuspielen, um so die Besucher so lange wie möglich abzulenken. Grubinger und das Orchester gaben extra lange Zugaben, erst dann wurden die Besucher informiert. Auch die Wiener Philharmoniker spielten nach ihrer Aufführung für die eingeschlossenen Besucher der Wiener Oper, bevor sie sicher nach Hause gehen konnten.

Zu Helden des Abends wurden im Netz auch zwei junge Männer für ihren selbstlosen Einsatz während der Terrorattacke. Noch während Schüsse fielen, halfen Recep Gültekin und Mikail Özen einer älteren Dame und einem angeschossenen Polizisten und wurden dabei selbst verletzt. Ein Anwohner filmte die Szene. «Wir wollten den letzten Kaffee vor den Ausgangssperren trinken und dabei sind wir mitten im Gefecht gelandet», schilderte Özen die Situation auf Instagram.

Die beiden Kampfsportler halfen erst einer älteren Dame, sich in Sicherheit zu bringen. Danach sahen sie einen verwundeten Polizisten. «Wir konnten einfach nicht nur zuschauen. Wir sind hingelaufen und haben ihn zum Krankenwagen befördert», so Özen. «Wir türkisch-stämmigen Muslime verabscheuen jegliche Art von Terror, wir stehen zu Österreich, wir stehen für Wien.»

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