Brexit Nigel Farage will Zorn über das Brexit-Dilemma zu Stimmen machen

Jill Lawless, AP

22.5.2019

Nigel Farage, EU-Abgeordneter für Grossbritannien und Vorsitzender der Brexit-Partei, hält bei einer Wahlkampfveranstaltung eine Rede.
Nigel Farage, EU-Abgeordneter für Grossbritannien und Vorsitzender der Brexit-Partei, hält bei einer Wahlkampfveranstaltung eine Rede.
Bild: Frank Augstein/AP/dpa

Er verkauft sich als Rebell gegen das Establishment und sitzt seit 20 Jahren im Parlament der EU, gegen die er täglich wettert. Trotzdem könnte Farage bei den Europawahlen glänzend abschneiden.

Die Briten wählen ihre Abgeordneten für das Europaparlament und EU-Hasser scheinen geradezu wild auf diese Abstimmung. Extreme Brexit-Befürworter können es kaum abwarten, die neu gegründete Brexit-Partei des EU-Abgeordneten Nigel Farage zu wählen. Zu Tausenden stehen sie auf seinen Kundgebungen, skandieren «Ni-gel! Ni-gel!» und schimpfen, dass sie um das Ergebnis des Brexit-Referendums von vor knapp drei Jahren betrogen worden seien.

Europawahlen waren in Grossbritannien meist eine schläfrige Angelegenheit. Vor fünf Jahren ging gerade ein Drittel der Berechtigten zur Wahl. Am Donnerstag aber dürfte das anders sein. Der Brexit oder vielmehr die Tatsache, dass er noch immer nicht vollzogen ist, wühlt die Wähler auf und das könnte vor allem für die Konservativen von Premierministerin Theresa May ein Problem werden.

«Da ist ein Schwung, eine Energie hinter der Brexit-Partei», strahlt Farage im Interview der Nachrichtenagentur AP bevor er in Frimley Green, 50 Kilometer südwestliche von London, zu mehr als 1000 Anhängern spricht. «Da draussen sind Millionen, die sich die Frage stellen: Was für ein Land sind wir, wenn wir einem demokratischen Ergebnis den Rücken zuwenden?»

Wäre alles nach Plan gelaufen, gäbe es die Wahl in Grossbritannien gar nicht. Das Königreich wollte am 29. März die EU verlassen haben. Aber weil das Parlament den Vertrag dazu dreimal abgelehnt hat, verschiebt sich der Austritt womöglich bis zum 31. Oktober. Und so müssen die Briten 73 Abgeordneten wählen, die sie im EU-Parlament vertreten sollen – wenn auch vielleicht nur für ein paar Wochen.

Umfragen zufolge könnte Farages Brexit-Partei ein Drittel der Stimmen einstreichen, nicht zuletzt weil viele die Wahl als eine Art zweites Brexit-Referendum betrachten. Konservative Brexit-Befürworter könnten aus Ärger über May diesmal für Farage stimmen. Doch auch die Brexit-Gegner Liberaldemokraten und Grüne stehen gerade ziemlich gut da – weitgehend auf Kosten der grössten Oppositionspartei Labour, die über den Brexit ebenso zerstritten ist wie Mays Konservative.

Sitzt seit 20 Jahren im EU-Parlament: Nigel Farage
Sitzt seit 20 Jahren im EU-Parlament: Nigel Farage
Bild: Keystone/AP/Kirsty Wigglesworth

Bekanntester Brexit-Befürworter

Farage ist wahrscheinlich Grossbritanniens bekanntester Brexit-Befürworter. Bei der Volksabstimmung 2016 war er einer der Propagandisten des Austritts aus der EU und wetterte dabei auch gegen Zuwanderer. Nach dem Referendum verliess er die Partei Ukip, die mittlerweile als Anti-Islam-Partei politisch nach Rechtsaussen getorkelt ist. Er selbst gründete im April die Brexit-Partei, um sich den Ärger vieler Brexit-Befürworter über das entscheidungsunfähige Parlament zunutze zu machen. Mehr als 100 000 Menschen hätten je 25 Pfund bezahlt, um sich als Unterstützer registrieren zu lassen, sagt Farage. Die Wahlkommission prüft, ob er wie schon vor dem Referendum gegen Gesetze zur Parteienfinanzierung verstossen hat.

In Frimley Green lauschen grösstenteils weisse Frauen und Männer mittleren Alters begierig, als Farage gegen den «schändlichen» Brexit-Vertrag wettert, den May mit der EU geschlossen habe. Auch über «Karrierepolitiker» zieht der 55-Jährige her, der sieben Mal vergeblich für das Unterhaus kandidiert hat, aber dafür seit 20 Jahren im Parlament der EU sitzt, für die er oft nur Hohn übrig hat.

Seine Anhänger sehen darin kein Problem. «Er ist der Einzige der für uns spricht», sagt Kerry Hawkins in einem «Team Nige»-T-Shirt, auf dem Farages Konterfei prangt. Farages Partei will das Brexit-Abkommen zerreissen und die EU ohne Vertrag verlassen. Unternehmer und Wirtschaftswissenschaftler halten das für den besten Weg in Rezession und wirtschaftliches Chaos. Für Farage-Fans ist das Angstmacherei. «Wir haben als souveräne Nation zwei Weltkriege durchgestanden», argumentiert der Ruheständler Peter Harrison. Im Lexikon der Brexit-Befürworter kommt der Geist der Kriegszeit immer wieder vor.

Die EU-Befürworter sind eher jünger und städtischer, aber genauso eifrig, ihre Botschaft für Donnerstag unters Volk zu bringen. Allerdings gibt es hier gleich mehrere Parteien. Die Liberaldemokraten verlangen eine zweite Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft. Ihre Umfragewerte steigen ebenso wie die der Grünen. Ausserdem wirbt Change U.K. um Stimmen. Die Gruppe haben Parlamentsabgeordnete gegründet, die bei Labour und den Konservativen ausgetreten sind. Auch Change U.K. verlangt ein neues Referendum.

Farage möchte Zweiparteiensystem zerschlagen

Die Vielzahl der Parteien ist ein Spiegelbild des zersplitterten politischen Systems in Grossbritannien, das Labour und die Konservativen jahrzehntelang geprägt haben. Farage möchte dieses Zweiparteiensystem zerschlagen.

«Es besteht die Möglichkeit, dass die beiden grossen Parteien bei dieser Wahl so schlecht abschneiden, dass die Menschen ihre grundsätzlichen Loyalitäten in Frage zu stellen beginnen», sagte Politikprofessor Tim Bale von der Queen Mary University in London. «Es könnte sein, dass Grossbritannien gerade tatsächlich auf dem Weg zu einem viel zersplitterteren und unbeständigeren Parteiensystem ist.»

Mancher kann das kaum erwarten. «Ich denke, wir stehen an der Schwelle zu etwas, das ziemlich historisch sein könnte», sagte Wohngebäudemanager Mark Bowles, während er Farage zuhört. «Zum ersten Mal in meinem Leben könnte es sein, dass nicht die beiden grossen Parteien entscheiden, was passiert.» Den meisten Menschen sei klar, dass sich etwas ändern müsse, egal aus welcher Ecke sie kämen. «Wir können nicht so weiter machen wie bisher.»


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