Prostitution statt Schule Zerplatzte Träume – Pandemie zwingt Kinder in Kenia zur Arbeit

AP/phi

25.10.2020

Ein Mädchen, das sich prostituieren muss, am 1. Oktober in Nairobi.
Ein Mädchen, das sich prostituieren muss, am 1. Oktober in Nairobi.
Bild: Keystone

Die Last der Corona-Pandemie in Kenia tragen auch die Kinder. Die Schulen sind zu, die Eltern ohne Arbeit. Viele Kinder müssen verdienen: Manche verkaufen ihre Körper oder arbeiten in Steinbrüchen und auf Müllhalden.

Die Mädchen können sich nicht erinnern, mit wie vielen Männern sie schlafen mussten, seit wegen der Corona-Krise ihre Schulen vor sieben Monaten schliessen mussten. Oder wie viele der Männer ein Kondom benutzten.

Sie erinnern sich aber schmerzhaft an die Male, an denen sie nach dem Sex geschlagen wurden – weil sie um ihre Bezahlung baten. Nur ein Dollar, der hilft, das Essen für ihre Familien zu bezahlen. Die Pandemie hat viele Jobs in Kenia zerstört, und das Überleben ist wichtiger als die Angst vor dem Coronavirus oder HIV.

«Wenn du in diesen Strassen fünf Dollar bekommst, ist das Gold», sagt eine 16-Jährige, die sich ein schmales Bett in einem gemieteten Zimmer in der Hauptstadt Nairobi mit zwei weiteren Mädchen teilt. Die 17-Jährige und die 18-Jährige seien ihre «besten Freundinnen, für immer», sagt sie. Die Mädchen bringen die Miete von 20 Dollar gemeinsam auf. Auch in den anderen Räumen des Hauses sind Sexarbeiterinnen untergebracht.

Bis zu elf Jahre jung

Laut dem UN-Kinderhilfswerk Unicef sind die jüngsten Errungenschaften gegen Kinderarbeit wegen der Pandemie jetzt in Gefahr. Die Zahl der arbeitenden Kinder könnte erstmals seit dem Jahr 2000 wieder steigen. Die Vereinten Nationen warnen, dass Millionen von Kindern zu ausbeuterischer und gefährlicher Arbeit gezwungen werden könnten. Schulschliessungen verschärfen das Problem.

Ein anderes Mädchen, das in Nairobi anschaffen muss.
Ein anderes Mädchen, das in Nairobi anschaffen muss.
Bild: Keystone

Die frühere Sexarbeiterin Mary Mugure hat die Organisation Night Nurse gegründet, um Mädchen vor Ausbeutung zu schützen. Mugure sagt, seit im März in Kenia die Schulen geschlossen wurden, seien bis zu 1000 Schulmädchen zu Sexarbeiterinnen geworden – in den drei Bezirken Nairobis, die sie beobachtet.

Die meisten der Kinder wollten ihren Eltern dabei helfen, ihre Rechnungen zu bezahlen. Die Jüngste sei gerade elf Jahre alt, sagt Mugure. Die drei Mädchen, die sich das Zimmer teilen, sind alle mit mehreren Geschwistern von alleinerziehenden Müttern im armen Vorort Dandora grossgezogen worden. Als Kenias Regierung hart durchgriff, um das Virus einzudämmen, wurden die Mütter arbeitslos.

Arbeiten im Steinbruch

Zwei von ihnen hatten anderen Menschen die Wäsche gewaschen, die in der Nähe ihres Stadtteils wohnen. Doch als es den ersten bestätigten Corona-Fall in der Gegend gab, wollte niemand mehr die Frauen im Haus haben. Die dritte Mutter hatte am Strassenrand Kartoffeln verkauft, doch wegen einer neuen Ausgangssperre brach ihr das Geschäft weg.

Die Mädchen sind die Ältesten und nahmen es auf sich, ihren Müttern bei der Ernährung der Familie zu helfen. Anderswo in Nairobi arbeitet die Alleinerziehende Florence Mumbua sogar zusammen mit ihren Kindern – sieben, zehn und zwölf Jahre alt. In glühender Hitze zertrümmern sie Felsbrocken in einem Steinbruch. Die Arbeit ist schwer und gefährlich.

Kevin Mutinda ist erst sieben Jahre alt, arbeitet aber im Steinbruch von Kayole in Nairobi.
Kevin Mutinda ist erst sieben Jahre alt, arbeitet aber im Steinbruch von Kayole in Nairobi.
Bild: Keystone

Aber die 34-jährige Mumbua sagt, sie habe keine andere Wahl, seit sie wegen der Pandemie ihren Putzjob in einer Privatschule verloren habe. «Ich muss mit den Kindern arbeiten, weil wir essen müssen und ich nicht viel verdiene», sagt sie. «Wenn wir als Team arbeiten, bekommen wir genug Geld fürs Mittag, Frühstück und Abendessen zusammen.»

Leben im Müll

In Dandora stöbern der 15-jährige Dominic Munyoki und der 17 Jahre alte Mohammed Nassur durch Kenias grösste Mülldeponie auf der Suche nach Altmetall. Munyokis alleinerziehende Mutter, die 35-jährige Martha Waringa, sagt, sein Einkommen helfe dabei, die Schulgebühren seiner sieben Geschwister zu zahlen, wenn der Unterricht wieder beginnt.

Mohamed Nassur (links), 17, Peter Kihika (Mitte), 16, und Dominic Munyoki, 15, suchen auf der Müllkippe Dandora nach Verwertbarem.
Mohamed Nassur (links), 17, Peter Kihika (Mitte), 16, und Dominic Munyoki, 15, suchen auf der Müllkippe Dandora nach Verwertbarem.
Bild: Keystone

Nassurs Mutter Ann Mungai findet nichts Falsches daran, dass ihr Sohn zum Familieneinkommen beiträgt: «Wenn er arbeitet, sitzt er nicht faul zu Hause herum oder spielt Videospiele», sagt die 45-Jährige. «Er verdient Geld, das uns hilft, und kann sich T-Shirts und Schuhe kaufen.»

Phillista Onyango leitet das Afrikanische Netzwerk zum Schutz und der Vorbeugung von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung mit Sitz in Kenia. Sie bestätigt, dass Eltern aus armen Stadtvierteln ihre Kinder lieber arbeiten sehen statt zu Hause, wo sie in Drogenmissbrauch und Kriminalität abrutschen könnten.

«Mässige Fortschritte» beim Kampf gegen Kinderarbeit

Die Gesetze zur Kinderarbeit, sagt Onyango, würden nicht durchgesetzt. In Kenia gilt als Kind, wer unter 18 Jahre alt ist. 13- bis 16-Jährige dürfen in Teilzeit «leichte Arbeiten» verrichten. 16- bis 18-Jährige können in Industrie und Bau arbeiten, allerdings nicht nachts.

Peter Kihika, 16, bekommt Naschhilfeunterric ht von seiner Mutter.
Peter Kihika, 16, bekommt Naschhilfeunterric ht von seiner Mutter.
Bild: Keystone

Nach Angaben des US-Arbeitsministeriums von 2019 hat Kenia «mässige Fortschritte» darin gemacht, die schlimmsten Formen der Kinderarbeit zu beseitigen, darunter sexuelle Ausbeutung. Es sei noch einiges zu tun. Es habe 85 Arbeitsinspekteure gegeben, wahrscheinlich zu wenige, um 19 Millionen Menschen in Arbeit zu überwachen, heisst es in dem Bericht.

Kenia hat inzwischen die Ausgangsbeschränkungen wieder gelockert, die bestätigten Covid-19-Fallzahlen sind relativ niedrig. Noch im Oktober sollen die Schulen schrittweise wieder öffnen. Doch Kinderschützerin Onyango sagt, dass viele Kinder, die angefangen haben zu arbeiten, nicht zurückkehren werden.

«Wir waren ganz nah dran, Geschichte zu schreiben»

In Afrika südlich der Sahara gehen im weltweiten Vergleich die wenigsten Kinder zur Schule. Laut Unicef nehmen ein Fünftel der Kinder zwischen sechs und elf Jahren und mehr als ein Drittel der 12- bis 14-Jährigen nicht am Unterricht teil.

Die 16 Jahre alte Sexarbeiterin aus Nairobi und ihre beiden Freundinnen hoffen, dass sie nicht für den Rest ihres Lebens so weitermachen müssen. Doch schätzen sie ihre Chancen, zur Schule zurückzukehren, als gering ein.

«Wo wir herkommen», sagt die 16-Jährige, «waren wir so was wie Vorbilder. Wer bei uns mit 16 noch nicht schwanger ist und noch zur Schule geht, der hat es geschafft. Wir waren ganz nah dran, unseren Abschluss zu machen und Geschichte zu schreiben.»

Zurück zur Startseite