Hoffnungsschimmer? Plötzlich reden alle vom Frieden in der Ukraine

Von Gil Bieler

27.12.2022

Kreml: «Entmilitarisierung» der Ukraine läuft erfolgreich

Kreml: «Entmilitarisierung» der Ukraine läuft erfolgreich

Zehn Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges mit Zehntausenden Toten sieht der Kreml trotz schwerer Rückschläge Fortschritte bei der «Entmilitarisierung» der Ukraine.

27.12.2022

Nach bald einem Jahr Krieg in der Ukraine sind «Friedensverhandlungen» in aller Munde: Kiew fordert eine internationale Konferenz, Putin zeigt sich immerhin gesprächsbereit. Doch die Differenzen bleiben gross.

Von Gil Bieler

27.12.2022

Der Krieg in der Ukraine dauert seit nunmehr zehn Monaten an – viel länger, als es sich Kreml-Chef Wladimir Putin wohl erhofft hatte. Nachdem die ukrainischen Truppen in jüngster Zeit einiges an Boden gutmachen konnten, drängt Kiew nun lauter auf Verhandlungen um ein Ende des Krieges. 

Das sagt die Ukraine

Konkret wurde der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba: Er hofft darauf, dass bis Ende Februar eine international besetzte Konferenz über Möglichkeiten für einen Frieden nach den Kriegshandlungen durchgeführt werde. Als Tagungsort schwebt ihm der UNO-Sitz in New York vor, UNO-Generalsekretär António Guterres könnte als Vermittler fungieren. Das sagte Kuleba am Montag der Nachrichtenagentur AP.

Kuleba betonte, die Ukraine werde alles daran setzen, den Krieg gegen Russland im Jahr 2023 zu gewinnen. Das beinhalte auch diplomatische Vorstösse. «Jeder Krieg endet als Resultat von Handlungen auf dem Schlachtfeld und am Verhandlungstisch.»

«Es geht darum, alle an Bord zu holen», sagte Kuleba. Auf die Frage, ob damit auch Russland gemeint sei, antwortete der Aussenminister, ehe sein Land direkt mit Moskau verhandle, müsse die russische Staatsführung sich für Kriegsverbrechen verantworten, zum Beispiel vor einem internationalen Tribunal. Zudem könne er ohnehin keine echte Verhandlungsbereitschaft von russischer Seite erkennen. Immer wieder sei zwar aus Moskau zu hören, man sei zum Dialog bereit. Das Verhalten Russlands auf dem Schlachtfeld mache aber deutlich, dass dem nicht so sei, kritisiert Kuleba.

Doch auch wenn Kiew selbst zu Distanz auf Moskau bleibt: Anderen Staaten sollte es freistehen, mit Russland zu reden, findet der Aussenminister. So wie es etwa beim Getreide-Deal unter Vermittlung der Türkei der Fall gewesen sei.

Das sagt Russland

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow äusserte sich in einer ersten Reaktion negativ zum Vorschlag Kulebas. Russland «folgt niemals den Bedingungen, die andere festgelegt haben», sagte Peskow der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti. «Nur unseren eigenen und dem gesunden Menschenverstand.»

Dennoch hatte zuletzt Wladimir Putin selbst erkennen lassen, dass Russland zu Friedensverhandlungen bereit sei. In einem Fernsehinterview sagte der russische Präsident Agenturmeldungen zufolge: «Wir sind bereit, mit allen Beteiligten über akzeptable Lösungen zu verhandeln, aber das liegt an ihnen – nicht wir verweigern Verhandlungen, sondern sie.» Für ihn ist also die Ukraine schuld am diplomatischen Stillstand.

Dass Putin gerade zum jetzigen Zeitpunkt Dialogbereitschaft erkennen lasse, sei einleuchtend, findet William Taylor, ehemaliger US-Botschafter in der Ukraine: «Natürlich tut er das. Er verliert auf dem Schlachtfeld.» Die russischen Truppen würden «aus dem Land getrieben», sagte Taylor in einem Interview mit dem Nachrichtensender CNN.

Mit der Bereitschaft zum Dialog versuche Putin, Zeit zu gewinnen und seine letzten verbliebenen Geländegewinne sichern, analysiert der Experte. «Und er setzt damit die Ukraine unter Zugzwang.»

Meint er es ernst mit Friedensverhandlungen? Der russische Präsident Wladimir Putin bei einem öffentlichen Auftritt am 22. Dezember. 
Meint er es ernst mit Friedensverhandlungen? Der russische Präsident Wladimir Putin bei einem öffentlichen Auftritt am 22. Dezember. 
Bild: EPA

Unerwähnt bleibt dabei, dass Putin in jüngster Zeit sehr wohl auch militärisch die Muskeln spielen liess: Er lässt seine Armee aufstocken, stellt im befreundeten Belarus stärkere Truppenverbände an der Grenze zur Ukraine auf, sichert sich hoch entwickelte iranische Waffen. Alles Signale, die einer Kriegsmüdigkeit widersprechen. Im Gegenteil: Die ukrainische Staats- und Militärführung erwartet sogar einen massiven russischen Angriff im Januar.

In seinem Interview mit dem russischen Staatsfernsehen liess Putin denn auch keine Reue erkennen: Russland sei dabei, seine Kriegsziele in der Ukraine zu erreichen, zeigte sich der 70-Jährige überzeugt.

Selenskyj hofft auf Unterstützung von Indien

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte bereits am G20-Gipfel im November in Indonesien einen 10-Punkte-Plan für Frieden vorgestellt. Dieser sieht unter anderem eine Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine vor, den Abzug der russischen Truppen und Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Dass die Positionen Moskaus und Kiews weit auseinander liegen, liegt auf der Hand. Vor allem was die Zukunft der von Russland völkerrechtswidrig annektierten Gebiete angeht.

Um seinen Friedensplan voranzutreiben, appelliert Selenskyj nun an Indien: Das Land hat gerade den Vorsitz der G20-Staaten übernommen, des Verbundes der bedeutendsten Industrienationen. Und: Indien verhält sich im Ukraine-Krieg neutral, vor allem wegen der wirtschaftlichen Beziehungen zum Kreml, die zuletzt noch intensiver wurden. Seit Europa sich von russischem Erdöl lösen will, steigen die Exporte nach Indien. Indien hat auch die westlichen Sanktionen gegen Russland nicht übernommen.

In einem Telefonat mit dem indischen Premierminister Narendra Modi warb Selenskyj am Montag um Unterstützung für seinen Friedensplan. Zugleich habe er dem Land für die humanitäre Hilfe und die Unterstützung in der UNO bedankt, teilte er auf Twitter mit.

Die indische Regierung ihrerseits erneuerte nach dem Telefonat ihren Aufruf, «sämtliche Kriegshandlungen sofort zu beenden» und zu Dialog und Diplomatie zurückzukehren. Ferner habe Modi seine Unterstützung für sämtliche Friedensverhandlungen zugesichert, zitiert CNN aus einer Erklärung Neu-Delhis.

Der zweite grosse neutrale Staat im Ukraine-Krieg ist China. Putin will gemäss Kreml-Angaben bis zum Jahreswechsel mit dem chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping sprechen. China hat sich offiziell für eine diplomatische Lösung ausgesprochen, den Krieg aber nicht verurteilt und sich auch nicht den westlichen Sanktionen gegen Russland angeschlossen.

Das sagt die Schweiz

Ob auch in Bern Gesuche um eine Vermittlungsrolle eingegangen sind, beantwortet das Eidgenössische Aussendepartement EDA nicht konkret. Auf Anfrage von blue News hält EDA-Mediensprecher Pierre-Alain Eltschinger lediglich fest, die Schweiz halte «den Dialog mit beiden Konfliktparteien aufrecht». Man sei aber bereit, Gute Dienste zu leisten, wenn dies von den Konfliktparteien gewünscht werde.

Die Schweiz nimmt ab Sonntag zum ersten Mal überhaupt Einsitz im UNO-Sicherheitsrat, dem mächtigsten Gremium der Vereinten Nationen. Den Sitz hat die Schweiz für die Jahre 2023 und 2024 inne. Eine der Prioritäten, die der Bundesrat für dieses Engagement benannt hat, ist die Friedensförderung.

Mit Material der Nachrichtenagenturen AP und DPA.

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