Deutschland hat die WahlPolitologe: «Wir sind ein Land, das in Angst und Schrecken lebt»
Dominik Müller
22.2.2025
Am Sonntag kommt aus, wer von den Spitzenkandidat*innen der vier grössten Parteien am meisten Wählerinnen und Wähler mobilisieren konnte.
Keystone
Nach dem Bruch der Ampel-Koalition findet in Deutschland am Sonntag die vorgezogene Bundestagswahl statt. Umfragen sehen die CDU klar vorn und die AfD ist so stark wie nie. Zwei Politologen ordnen für blue News ein.
Im Geschichtsbuch deutscher Bundeskanzler könnte es einer der kürzesten Einträge werden: Seit drei Jahren und zwei Monaten ist Olaf Scholz im Amt, doch wenn es nach den aktuellen Umfragen geht, sind seine Tage als Regierungschef gezählt. Vor der Neuwahl des Bundestages an diesem Sonntag zeichnet sich ein Wechsel im Kanzleramt in Berlin ab.
Die eigentlich für Ende September geplante Wahl war vorgezogen worden, nachdem die «Ampel»-Koalition aus SPD, FDP und Grünen – benannt nach den Parteifarben Rot, Gelb, Grün – im November am Streit um den Bundeshaushalt zerbrochen war. Scholz hatte den FDP-Chef und damaligen Finanzminister Christian Lindner entlassen, weil dieser sich geweigert hatte, die in der deutschen Verfassung zur Begrenzung der Kreditaufnahme verankerte Schuldenbremse auszusetzen.
Seither führt Scholz nur noch eine Minderheitsregierung mit den Grünen. Am 16. Dezember verlor er wie erwartet die Vertrauensfrage im Bundestag.
In den Umfragen liegen die Christdemokraten (CDU/CSU) mit Kanzlerkandidat Friedrich Merz mit rund 30 Prozent stabil in Führung.
Dahinter erreicht die rechtsextreme AfD nach aktuellen Umfragewerten einen Stimmanteil von 21 Prozent, gefolgt von SPD (15 Prozent) und den Grünen (13 Prozent). Am unteren Rand kämpfen die Linkspartei (7 Prozent), BSW (4 Prozent) und FDP (4 Prozent) um das Erreichen der Fünf-Prozent-Hürde und den damit verbundenen Einzug in den Bundestag.
Um regieren zu können, bräuchten Merz' CDU und ihre bayerische Schwesterpartei CSU, die im Bundestag eine gemeinsame Fraktion (Union) bilden, aber mindestens einen Koalitionspartner.
Kleine Parteien als Zünglein an der Waage
Die möglichen Koalitionsoptionen hängen gemäss Politikwissenschaftler Jörg Siegmund von der Akademie für Politische Bildung in Tutzing zunächst davon ab, wie viele Parteien den Einzug in den Bundestag schaffen. «Je mehr kleine Parteien im Parlament vertreten sind, desto unwahrscheinlicher wird eine Mehrheit aus Union und nur einer weiteren Partei», sagt er zu blue News. «Die grössten Chancen zur Bildung einer Koalition sehe ich momentan für Union und SPD – gegebenenfalls eben mit einem weiteren Partner.»
Auch Politologe Klaus Schroeder, Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, sieht im Abschneiden der Parteien am unteren Rand den entscheidenden Faktor: «Schaffen es die kleinen Parteien nicht in den Bundestag, wird es wohl auf eine Koalition zwischen Union und SPD hinauslaufen.»
Stand 2021 die Bundestagswahl noch im Zeichen der Klimakrise, ist diesmal ein anderes Thema im Fokus: «Der Wahlkampf wird in diesem Jahr stark von der Migration als beherrschendes Thema dominiert», sagt Siegmund.
«Ich glaube nicht, dass die Wahl noch gross beeinflusst wird»
Ereignisse wie der Anschlag in München, bei dem am Donnerstag vor einer Woche ein 24-jähriger Afghane sein Auto bewusst in den Demonstrationszug gesteuert hat, befeuern die Debatte über die Migrationspolitik und Abschiebungen. Ein Vorteil für die AfD, die einen restriktiveren Kurs in der Migrationspolitik fordert und sich für «Remigration» ausspricht? «Ich glaube nicht, dass die Wahl noch gross beeinflusst wird», beschwichtigt Klaus Schroeder.
Auch Jörg Siegmund relativiert: «Bei aller Tragik dieser Tat: Sie wird als einzelnes Ereignis das Wahlergebnis nicht dramatisch verändern und auch die AfD nicht wesentlich stärken.» Allerdings habe der Anschlag von München grosse Bestürzung hervorgerufen und beschäftige viele Menschen. «Er wirkt sich damit auch auf die Stimmung vor der Wahl aus und kann das Wahlverhalten mancher Wahlberechtigten beeinflussen. Wie genau, das lässt sich allerdings nur schwer vorhersagen», so Siegmund.
Die Tat von München fügt sich in eine Reihe weiterer Anschläge ein, die sich in den letzten Monaten ereignet haben. Und zuletzt wurde bekannt, dass die Terrororganisation IS online zu weiteren Anschlägen in Deutschland aufruft. Gemäss dem Bund Deutscher Karneval wurden aus Furcht bereits erste Karnevalsumzüge abgesagt.
«Deutschland ist wirtschaftlich am Ende»
«Wir sind ein Land, das in Angst und Schrecken lebt», sagt Schroeder, «ich hatte es nicht für möglich gehalten, dass wir mal sowas erleben.» Deutschland sei jahrelang ein Anker der Stabilität gewesen, «aber heute ist Deutschland nichts und wirtschaftlich am Ende».
Auch Siegmund bekräftigt, dass Deutschland vor zahlreichen Herausforderungen steht, denen sich die künftige Bundesregierung annehmen muss. «Ich denke dabei an die Bewältigung der Klimakrise ebenso wie an die schwächelnde Wirtschaft, die Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme und die Digitalisierung – von aussen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen ganz zu schweigen.»
Die künftige Bundesregierung wird voraussichtlich von Friedrich Merz geleitet: «Herr Merz wird wahrscheinlich Kanzler», bestätigt Klaus Schroeder, «aber er wird sich auf sehr instabile Mehrheiten stützen müssen». Seien die Grünen in eine Koalition involviert, werde er nicht viel anders machen als derzeit Olaf Scholz. «Und das wird dann wiederum für die nächste Wahl die AfD bestärken.»
Dass die AfD nun zweitstärkste Kraft im Bundestag werden könnte, haben gemäss Schroeder auch die anderen Parteien zu verantworten: «Die AfD wird inhaltlich zu wenig bekämpft. Das ständige Gerede von ‹gesichert rechtsextrem› interessiert keinen Menschen mehr.»
Kürzlich hat die Union im Bundestag ihren Fünf-Punkte-Plan mit den Stimmen der AfD durchgebracht. Daraufhin haben vielerorts in Deutschland Zehntausende gegen den drohenden Rechtsruck protestiert. Davon profitiert gemäss Jörg Siegmund eine Partei, die dringend auf Stimmen angewiesen ist: «Das Abstimmungsverhalten der Unionsparteien im Bundestag vor drei Wochen hat vor allem zu einer Mobilisierung im linken politischen Spektrum geführt. Die Partei Die Linke konnte seither einen deutlichen Aufschwung in den Umfragen verzeichnen.»
Wie erfolgreich die Parteien an der Bundestagswahl abschneiden, liegt auch an deren Spitzenkandidat*innen. «Angesichts der rasanten Geschwindigkeit, mit der sich die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen verändern, und der Komplexität vieler Problemlagen, auf die die Politik reagieren muss, können Wahlprogramme – so wichtig sie sind – nicht auf jede Fragestellung eine Antwort parat haben», sagt Siegmund.
Orientierung in politischer Landschaft
Wichtig seien daher Kandidat*innen, die den Menschen Vertrauen vermitteln und ihnen signalisieren: «Egal was auf uns zukommt, wir kümmern uns verantwortungsvoll darum.» Die Spitzenkandidaten stehen dabei für eine bestimmte politische Richtung, sie geben Orientierung in einer unübersichtlichen politischen Landschaft.
Auch bei dieser Wahl gibt es viele unentschlossene Wähler*innen. Deren Entscheidung dürfte das Resultat letztlich wesentlich beeinflussen. Kurz nach 18 Uhr werden am Sonntag die ersten Prognosen erwartet.
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