Strategiewechsel Putins Armee sammelt sich für Grossangriff auf die Ostukraine

Von Carsten Hoffmann und Andreas Stein, dpa

7.4.2022 - 17:50

Ein russischer Soldat patroulliert in der einer Stadt in der umkämpften ukrainischen Region Luhansk. 
Ein russischer Soldat patroulliert in der einer Stadt in der umkämpften ukrainischen Region Luhansk. 
Bild: EPA

Der Abzug der russischen Streitkräfte aus der Region Kiew glich teils einer Flucht, sagen Militärexperten. Nun formieren sie sich neu – wohl für eine Offensive auf die Ostukraine. Will Putin bald einen Sieg verkünden?

Während die westlichen Partner der Ukraine als Reaktion auf Gräueltaten von Butscha verstärkte Waffenlieferungen in Aussicht stellen, lässt der russische Präsident Wladimir Putin seinen nächsten Militärschlag vorbereiten. Die um Kiew abgezogenen russischen Landstreitkräfte verlegen sich rund 400 Kilometer über eigenes Gebiet zum Ausgangpunkt eines möglichen neuen Angriffs. Die Nato erwartet eine baldige Grossoffensive mit teils neu ausgerüsteten russischen Soldaten auf den Osten der Ukraine.

Dabei gibt es noch keine endgültige Klarheit über die Ziele Putins: Ob er nach einem nun noch brutaler geführten Angriff schon im Mai einen Sieg verkünden und eine Verhandlungslösung suchen wird, oder – und davor warnt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg – er seine Truppen «viele Monate oder sogar Jahre» kämpfen lässt.

Bemerkenswert: Militärexperten sagen der Nachrichtenagentur DPA, dass die russischen Truppen auch bei ihrem zweiten Versuch nicht mit einem schnellen Sieg rechnen sollten. Allerdings dürften sie womöglich weiterhin rücksichtslos auf Zivilist*innen und die Infrastruktur feuern.

Reicht die Übermacht?

Ein grundsätzliches Problem benennt Brigadegeneral Christian Freuding, Leiter des Lagezentrums Ukraine im deutschen Verteidigungsministerium. Es habe eine «Überdehnung der russischen Kräfte» gegeben, sagte Freuding im Bundeswehr-Sendeformat «#nachgefragt».

«Beim Angriff sprechen wir von einem Kräfteverhältnis eins zu drei, wenn der Angriff erfolgversprechend sein soll. Also ganz konkret: Wir bräuchten eine dreifache russische Überlegenheit gegenüber dem ukrainischen Verteidiger», erklärte Freuding. «Und wenn wir sogar in den Orts- und Häuserkampf gehen, gehen wir von Verhältnissen 1:8 bis 1:10 aus.» Betrachte man aber die russischen und ukrainischen Kräfte unter diesem Blickwinkel, dann stimme für einen Sieg der Russen «das Kräfteverhältnis grundsätzlich nicht».

Allerdings gibt es auch bei der westlichen Hilfe für die Ukraine einen Wettlauf gegen die Zeit. Das mag auch die schrilleren Töne der ukrainischen Diplomatie erklären, die nach mehr Unterstützung – und vor allem Waffenlieferungen – der westlichen Länder ruft. 

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Die russische Armee setzt ihre Angriffe auf die Nachschublinien für ukrainische Einheiten in der Ostukraine fort. So wurde der Eisenbahnknotenpunkt Losowa im Gebiet Charkiw mit Raketen angegriffen, Gleise wurden zerstört. Im Gebiet Dnipropetrowsk werden beinahe täglich Treibstofflager und Fabriken mit Raketen angegriffen. Auch in übrigen Landesteilen sind vor allem Reservoirs mit Diesel, Benzin und Schmierstoffen Ziele der Angriffe mit Raketen. Zwei Erdölraffinerien in den Gebieten Poltawa und Odessa sollen komplett zerstört worden sein.

Von Russland verlegte Truppen sind nach ukrainischen Angaben zum Teil bereits in der Ostukraine um die eroberte Stadt Isjum im Charkiwer Gebiet konzentriert worden. Ziel sei dabei der Vorstoss in Richtung der Stadt Slowjansk im Donezker Gebiet. Im benachbarten Luhansker Gebiet werden ähnliche Verstärkungen der russischen Einheiten beobachtet. Die russischen Truppen verstärken dabei den Beschuss der unter ukrainischer Kontrolle verbliebenen Städte Sjewjerodonezk, Rubischne und Lyssytschansk.

Der Gouverneur des Gebiets, Serhij Hajdaj, erwartet den Start der russischen Offensive bereits zum Wochenende und macht Druck auf die verbliebenen Zivilist*innen, sich unverzüglich mit noch bereitstehenden Bussen und Zügen ins Landesinnere in Sicherheit zu bringen. «Ich denke, dass sie das Heranbringen aller Reserven bereits planen abzuschliessen und dass sie in drei bis vier Tagen versuchen, eine Offensive durchzuführen», sagte er am Mittwoch.

Ukrainischer Experte: Einkreisung scheint das Ziel zu sein

Im Süden drängten ukrainische Truppen russische Einheiten an der Grenze der Gebiete Dnipropetrowsk und Cherson anscheinend weiter nach Süden zurück. Grössere Angriffsbemühungen der russischen Truppen scheinen dabei in diesem Gebiet auszubleiben. Alle Kräfte der Russen sind anscheinend auf die endgültige Eroberung der Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer und den Einschluss der ukrainischen Armeeteile im Donbass konzentriert.

Der ukrainische Militärexperte Oleh Schdanow sagte im ukrainischen Fernsehen zum Vorhaben des russischen Gegners: «Von Donezk und Luhansk und von Isjum bis Huljajpole versucht er den Kreis um unsere Truppen zu schliessen.» Doch trennen beide Stossgruppen weiterhin rund 250 Strassenkilometer.

Eine Rückkehr der Russen in den Norden schliesst Schdanow vorerst aus: «Sie haben keine Kräfte dafür.» Alle verfügbaren Soldaten und die einsatzfähige Militärtechnik würden gerade in den Osten der Ukraine verlegt. «Wenn es im Osten nicht gelingt, dann wird es bereits keinen Sinn mehr machen, die verbliebenen Reste in die Nordukraine zu bringen», betont Schdanow. Sollten die Russen im Donbass Erfolg haben, würde sich wieder die Frage der Eroberung der ostukrainischen Metropole Charkiw und der Hauptstadt Kiew stellen.

Von Carsten Hoffmann und Andreas Stein, dpa