PolitikRechtspopulist als Nummer 1 – Was ist in den Niederlanden los?
SDA
23.11.2023 - 12:32
Geert Wilders, einziges Mitglied seiner «Partij voor de Vrijheid», kann seinen Triumph selbst nicht fassen. Als am Mittwochabend die erste Prognose des niederländischen Fernsehens seinen sensationellen Wahlsieg verkündet, schlägt er die Hände vors Gesicht.
23.11.2023, 12:32
SDA
«35!», ruft er. 35 Sitze im Parlament – am Ende sollen es sogar 37 für die Partei für die Freiheit werden.
Das Ergebnis sei «historisch», heisst es am Donnerstag übereinstimmend in den Medien. In Teilen der niederländischen Gesellschaft ist der Schock gross. «Ich schäme mich zutiefst – auch ein bisschen dafür, Niederländerin zu sein», sagt eine Bürgerin aus Enschede im Fernsehen.
Muhsin Köktas, Vorsitzender eines muslimischen Verbands sagt, Muslime hätten jetzt Angst, ihre Religion nicht mehr frei ausüben zu dürfen. Wilders pocht schliesslich seit 20 Jahren auf ein Koran-Verbot und die Schliessung aller Moscheen.
Auch das Ausland traut seinen Augen nicht. Holland – stand das nicht mal für Flower Power und das von Chansonnier Herman van Veen besungene «zärtliche Gefühl»? War das nicht mal das Land, in dem gerade Deutsche das Gefühl hatten, freier durchatmen zu können? Weil alles etwas lockerer und toleranter zugeht?
Rechtspopulisten gibt es schon 20 Jahre
Dieses Bild traf so wohl immer nur auf die Hauptstadt Amsterdam zu. Schon vor über 20 Jahren gab es erstmals einen kräftigen Rechtsruck, als der Soziologie-Professor Pim Fortuyn als erster Populist durchstartete. Kurz vor seinem vorausgesagten Erdrutschsieg bei der Parlamentswahl von 2002 wurde er von einem militanten Tierschutz-Aktivisten auf einem Parkplatz erschossen. Seine Partei zerlegte sich danach selbst und verschwand in der Versenkung.
Das Erbe Fortuyns trat ein anderer Rechtspopulist an, ein Mann mit einer platinblonden Haartolle und dem Dialekt seiner Heimatstadt Venlo: Geert Wilders. Um einem Chaos wie in Fortuyns Partei vorzubeugen, wandte er einen einfachen Trick an: Bis heute ist er das einzige Mitglied seiner Partei PVV. Gefolgsleute können sich nur als Sympathisanten oder Förderer anmelden.
Seit ihrer ersten Teilnahme an einer Wahl 2006 ist die PVV immer eine feste Grösse in der Parteienlandschaft und eine starke Kraft im Parlament in Den Haag gewesen. Warum aber ist sie jetzt plötzlich so gross geworden?
Migration als Wahlkampfthema Nummer 1
Es gab ein Thema, das den Wahlkampf dominierte: Migration. Alle Parteien auf der Rechten überboten sich geradezu mit Versprechungen, die Asylzahlen zu verringern. «Unser Land ist voll», hiess es. Dabei wurde vielfach der Eindruck erweckt, die Zuzügler seien die Hauptursache für die bestehende Wohnungsnot.
Tatsache ist: Das Land mit etwa 18 Millionen Einwohnern ist eines der am dichtest besiedelten der Welt. Im vergangenen Jahr kamen 224 000 Migranten, doch nur eine Minderheit davon, etwa 46 000, waren Asylsuchende und ihre Angehörigen. Der Rest bestand aus Arbeitsmigranten und Auslandsstudenten.
Rutte-Nachfolgerin macht Wilders salonfähig
Eine weitere Ursache für Wilders' Wahlsieg dürften die Annäherungsversuche der bisher grössten Partei, der rechtsliberalen Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD), gewesen sein.
Der scheidende Ministerpräsident Mark Rutte hatte eine Zusammenarbeit mit Wilders immer ausgeschlossen. Auch aus eigener schlechter Erfahrung. Denn Ruttes erstes Kabinett, eine Minderheitsregierung, war von Wilders toleriert worden, aber dann vorzeitig an dessen Kompromisslosigkeit gescheitert. Seitdem hatte Rutte jedes Vertrauen in ihn verloren.
Seine Nachfolgerin als VVD-Chefin, Dilan Yesilgöz, wollte sich aber viel rechter als Rutte positionieren und änderte deshalb den Kurs. Sie erklärte gleich zu Beginn des Wahlkampfes, sie wolle Wilders als Koalitionspartner nicht ausschliessen. Davon ging die Botschaft aus: Wilders hat jetzt erstmals eine echte Chance auf Regierungsbeteiligung. So habe Yesilgöz Wilders «salonfähig» gemacht, sagte ein Fernsehkommentator unter Verwendung des deutschen Begriffs. Plötzlich gab es keine Hemmungen mehr, sich öffentlich als Wilders-Fan zu outen.
Nach 13 Jahren unter dem rechtsliberalen Rutte ist Wilders für viele Wähler «neue Politik». Denn Ruttes Langzeitregierung wird auch für die Misere im Gesundheitssystem verantwortlich gemacht, für zunehmende Armut und für mehrere Affären und Skandale der vergangenen Jahre. Wilders setzt dagegen Einzeiler wie: «Die Niederländer müssen wieder Nummer 1 sein.»
Emotionale Rede von Timmermans kommt zu spät
Aber auch andere Spitzenkandidaten müssen sich fragen, ob sie alles richtig gemacht haben. So hielt Ex-EU-Kommissar Frans Timmermans vor seinem Anhang aus Grünen und Sozialdemokraten in der Wahlnacht zwar eine emotionale Rede mit dem Aufruf, die Niederländer müssten jetzt «die Demokratie verteidigen». Allerdings musste er sich sofort kritisch fragen lassen, warum er das nicht früher getan habe.
Die von Wilders ausgehende Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat war im Wahlkampf kaum je thematisiert worden – übrigens auch nicht von den Medien, die den Rechtsaussen schon lange wie einen ganz normalen Politiker behandeln. Alles andere sei doch elitär und undemokratisch, heisst es zur Begründung. Dass man doch «jeden mit ins Boot nehmen» wolle, ist in den Niederlanden eine politische Maxime.
Was wird aus der EU-Beziehung und den Ukraine-Hilfen?
Die grosse Herausforderung für Wilders ist nun, andere Parteien als Koalitionspartner an sich zu binden. Dies erscheint schwierig, aber keineswegs unmöglich. Sowohl Yesilgöz als auch der zweite Sieger des Wahlabends, der frühere Christdemokrat Pieter Omtzigt, zeigen sich offen für Gespräche. Alle Parteien müssten jetzt «über ihren Schatten springen», sagte Omtzigt, der erst vor zwei Monaten seine eigene Patei «Neuer Sozialer Vertrag» gegründet hatte. Damit holte er bei der Wahl auf einen Schlag 20 der 150 Parlamentssitze. Und auch die Protestpartei Bauernbürgerbewegung BBB will gerne mit dem Rechtsaussen regieren.
So könnten die Zeiten, in denen die Niederlande auch für die Bundesregierung einer der engsten Partner innerhalb der Europäischen Union waren, bald vorbei sein. Zwar ist der von Wilders angestrebte «Nexit» – ein Austritt aus der EU nach britischem Vorbild – mit den anderen Parteien nicht zu machen. Doch auf vielen Gebieten würden die Niederlande mit Wilders als Regierungschef künftig einen anderen Kurs fahren. Er lehnt zum Beispiel den Klimaschutz ab und will auch die Hilfe für die Ukraine drastisch zurückfahren.
All das wird in Deutschland wohl genau registriert werden und dürfte teilweise die Alarmglocken schrillen lassen. Die oft gehörte Beschwichtigung, gute Umfragewerte für extreme Parteien bedeuteten noch lange nicht, dass die Leute dann auch wirklich so wählen würden, hat sich zumindest für die Niederlande als Wunschdenken herausgestellt.
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