Rekordinflation in der Türkei «Alles ist so teuer. Ich kann nichts kaufen»

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18.11.2021 - 21:18

Viele türkische Verbraucher sehen sich mit zunehmenden Schwierigkeiten konfrontiert, da die Preise für Lebensmittel und andere Waren in den letzten Jahren stark angestiegen sind.
Viele türkische Verbraucher sehen sich mit zunehmenden Schwierigkeiten konfrontiert, da die Preise für Lebensmittel und andere Waren in den letzten Jahren stark angestiegen sind.
AP Photo/Francisco Seco/Keystone

Eine fast 20-prozentige Inflation – da können sich viele Menschen in der Türkei nur noch das Allernotwendigste zum Leben leisten. Experten machen Präsident Erdogan zu einem grossen Teil mitverantwortlich für die Krise.

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Kadriya Dogru verkauft auf dem Istanbuler Markt Ortakcilar Kleidungsstücke. In diesen Tagen muss sie sich zum Mittagessen mit schal gewordenen Sesambagels, bekannt als Simit, begnügen. Was immer die verwitwete Mutter von zwei Kindern verdient, spart sie auf, um abends Essen für die Familie auf den Tisch bringen zu können. Das Geld reicht gerade Mal dafür, von anderen Dingen gar nicht zu reden.

«Ich habe niemals ein so klägliches Leben gehabt», sagt die 59-Jährige. «Ich gehe ins Bett, wache auf und die Preise sind gestiegen. Ich habe einen Fünf-Liter-Kanister mit Öl (zum Kochen) gekauft, er hat 40 Lira gekostet. Ich ging zurück, da waren es 80 Lira. Dies verdienen wir nicht als eine Nation.»

Volkswirte widersprechen Erdogan

Viele Menschen in der Türkei können ein ähnliches Lied singen, haben Mühe, das Nötigste zum Leben zu kaufen, nachdem die Inflation im Land rasant zugenommen hat. Auch andere Staaten haben es als Folge der wirtschaftlichen Erholung nach den Erschwernissen der Corona-Pandemie mit ansteigenden Verbraucherpreisen zu tun, aber Ökonomen zufolge spielen in der Türkei noch andere Faktoren mit: Misswirtschaft, Besorgnisse über die Finanzreserven des Landes und der lockere geldpolitische Kurs von Präsident Recep Tayyip Erdogan, sein Beharren auf Zinssenkungen.



Erdogan behauptet, dass niedrigere Kreditkosten das Wachstum förderten, obwohl Volkswirtschaftler sagen, dass das Gegenteil das richtige Rezept ist.

«Ich kann nichts kaufen»

Und so hat denn die türkische Zentralbank die Zinssätze gesenkt, und die türkische Lira ist auf einen Rekordtiefstand zum US-Dollar gefallen. Opfer sind die Durchschnittsbürger, die sich nun irgendwie durchhangeln müssen.   

«Alles ist so teuer. Ich kann nichts kaufen», klagt Suheyla Poyraz, während sie die Stände mit Nahrungsmitteln auf dem Ortakcilar-Markt  abklappert. Die 57-jährige Hausfrau hat für Erdogans Partei gestimmt und fordert nun von der Regierung, etwas gegen die Inflation zu unternehmen. «Wenn du die Regierung bist und wir dich wählen, damit du Abhilfe schaffst, warum schreitest du dann nicht ein? Warum bringst du den Preisanstieg nicht zu einem Halt?» fragt Poyraz.

Die hohe Inflation nagt an der Popularität von Erdogan, dessen frühe Jahre an der Macht von einer starken Wirtschaft geprägt waren. Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass eine Gruppe von Oppositionsparteien, die sich zu einer Koalition gegen Erdogans Regierungspartei und deren nationalistische Verbündete zusammengeschlossen haben, im Aufwind ist.

Viele Menschen in der Türkei können sich nur noch das Allernotwendigste zum Leben leisten.
Viele Menschen in der Türkei können sich nur noch das Allernotwendigste zum Leben leisten.
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Der Regierung zufolge betrug der Anstieg der Inflation im Oktober auf Jahresbasis fast 20 Prozent, aber die unabhängige Inflation Research Group, eine Gruppe von Akademikern und früheren Regierungsbeamten, spricht von eher nahe 50 Prozent. Im Vergleich dazu legten die Verbraucherpreise in den USA binnen eines Jahres um sechs Prozent zu, so viel wie seit 1990 nicht mehr, und in den 19 EU-Ländern mit dem Euro als Währung überstieg die Inflation vier Prozent, der höchste Stand seit 13 Jahren.

Lira sinkt auf Tief

In der vergangenen Woche sank die türkische Währung auf ein historisches Tief von zehn Lira zum US-Dollar, seit Beginn dieses Jahres hat sie etwa 25 Prozent an Wert verloren. Das treibt die Preise höher, macht Importe, Benzin und Waren für den Alltagsgebrauch teurer. Manche argumentieren, dass eine schwächere Lira türkische Exporteure global wettbewerbsfähiger mache, aber ein grosser Teil der türkischen Industrie stützt sich auf importierte Rohmaterialien.  

Erdogans offensichtlicher Einfluss auf die Geldpolitik löst immer grössere Besorgnisse aus. Er hat seit 2019 vier neue Zentralbankchefs ernannt und Banker gefeuert, die sich Zinssenkungen widersetzt haben sollen. Die Zentralbank hat die Zinssätze seit September um drei Prozentpunkte gesenkt, für den (heutigen) Donnerstag wurde die nächste Entscheidung erwartet.

Im Gegensatz zur Türkei haben Zentralbanken in anderen hart von der Corona-Pandemie betroffenen Ländern mit Zinserhöhungen begonnen oder erwägen sie in den kommenden Monaten, nachdem Warenstaus in Häfen und Fabriken, Mangel an Arbeitskräften und rasant gestiegene Energiekosten Preise in die Höhe getrieben haben. Ausländische Investoren haben türkische Anlagen abgestossen, und Türken wandeln ihre Ersparnisse in ausländische Währungen und Gold um. Volkswirtschaftlerin Özlem Derici Sengül, Mitbegründerin der Beraterfirma Spinn Consulting in Istanbul, schätzt, dass sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung «in Sachen Einkommen abquält».

Erdogan verweist auf leere Regale in Europa

Erdogan beharrt derweil darauf, dass die Wirtschaft stark sei und das Land in einem besseren Zustand aus der Pandemie auftauche als andere Staaten. «Regale in Europa sind leer, sie sind leer in den USA», sagte er. «Lob sei Gott, wir haben es weiter mit einer Fülle und Üppigkeit zu tun.»

Für die exorbitant hohen Nahrungsmittelpreise macht der Präsident Supermarktketten verantwortlich, im Zuge einer von ihm angeordneten Untersuchung wurden Bussgelder verhängt. Erdogan hat auch Agrargenossenschaften angewiesen, Tausende neue Läden in allen Teilen des Landes zu eröffnen, das soll Lebensmittelpreise niedrig halten. Die Regierung arbeitet zudem an einer Anpassung der Mindestlöhne, um Arbeitern zu helfen, wie sie kürzlich mitteilte. Volkswirtschaftler halten indes ein Ende der lockeren Geldpolitik für den Hauptschlüssel zum Stopp der Inflation.

Lebensmittelladenbesitzer Musa Timur in Istanbul strampelt sich damit ab, seine Regale stets einigermassen wieder aufzufüllen. «Jedes Produkt, das wir verkaufen – wir können es nicht zum selben Preis bekommen», klagt er. Seine Kunden könnten sich keine Vielfalt bei Lebensmitteln mehr leisten: Sie kauften zumeist Brot, Nudeln und Eier.