PolitikRichtungsweisende Wahl: Türkei stimmt über Präsident und Parlament ab
SDA
14.5.2023 - 04:54
Die Türkei steht vor einer richtungweisenden Wahl: Rund 61 Millionen Menschen sind am Sonntag dazu aufgerufen, für ein neues Parlament und einen Präsidenten zu stimmen. Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan muss nach 20 Jahren an der Macht um seine Wiederwahl bangen. Umfragen sehen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit seinem Herausforderer, dem Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu voraus. Mit belastbaren Ergebnissen wird am späten Sonntagabend deutscher Zeit gerechnet.
Keystone-SDA
14.05.2023, 04:54
SDA
Die Wahl findet in angespannter Atmosphäre statt. Zuletzt war die Sorge laut geworden, dass Erdogan eine Niederlage nicht akzeptieren könnte. Am Freitag hatte der Präsident jedoch erklärt, das Ergebnis in jedem Fall anzuerkennen.
Seit der Einführung eines Präsidialsystems vor fünf Jahren hat der 69 Jahre alte Erdogan so viel Macht wie noch nie und kann weitestgehend am Parlament vorbei regieren. Kritiker fürchten, dass das Land mit rund 85 Millionen Einwohnern vollends in die Autokratie abgleiten könnte, sollte er erneut gewinnen. Auch international wird die Abstimmung in dem Nato-Land aufmerksam beobachtet.
«Die Wahlen in der Türkei sind vermutlich die letzte Chance für die Opposition, Erdogan nach 20 Jahren auf demokratischem Weg zu schlagen», sagte der SPD-Aussenpolitiker Michael Roth dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Kilicdaroglu (74) ist Chef der sozialdemokratischen CHP und kandidiert für ein Bündnis aus sechs Parteien. Er will zurück zum parlamentarischen System. Der dritte Kandidat, Sinan Ogan, hat keine Aussicht auf einen Sieg. Gewinnt keiner der Kandidaten in der ersten Runde die absolute Mehrheit, kommt es am 28. Mai zu einer Stichwahl.
Im Parlament hält Erdogans islamisch-konservative AKP zurzeit eine Mehrheit im Bündnis mit der ultranationalistischen MHP. Ob Erdogan diese halten kann, ist offen. Als Zünglein an der Waage gilt die prokurdische HDP. Sie gehört nicht zu Kilicdaroglus Sechser-Bündnis, unterstützt ihn aber bei der Präsidentenwahl.
Mit Spannung wurde erwartet, wie das Votum in den von den Erdbeben betroffenen Provinzen ausfällt. Nach den Beben am 6. Februar mit Zehntausenden Toten war Kritik am Krisenmanagement der Regierung laut geworden.
Der Wahlkampf galt als unfair, vor allem wegen der medialen Übermacht der Regierung. Bestimmendes Thema war vor allem die schlechte wirtschaftliche Lage mit einer massiven Inflation. Erdogan versprach unter anderem eine Anhebung von Beamtengehältern und weitere Investitionen in die Rüstungsindustrie. Er führte eine aggressive Kampagne, beschimpfte die Opposition als «Terroristen» und äusserte sich feindlich gegenüber lesbischen, schwulen und queeren Menschen.
Ein beliebter Oppositionspolitiker war nur eine Woche vor der Wahl mit Steinen beworfen worden. Kilicdaroglu trug am Freitag bei einem Auftritt in der Erdogan-Hochburg Samsun eine kugelsichere Weste.
Kilicdaroglu gilt als besonnener Politiker. Er stammt aus der osttürkischen Provinz Tunceli und gehört der religiösen Minderheit der Aleviten an. Der Oppositionsführer will die Unabhängigkeit von Institutionen wie der Zentralbank wiederherstellen und die Inflation in den Griff bekommen. Er steht für eine Wiederannäherung an Deutschland und die EU, aber auch für eine schärfere Migrationspolitik.
In der EU und in der Nato dürfte es kaum einen Spitzenpolitiker geben, der einen Machtwechsel in Ankara bedauern würde. Seitdem Erdogan den Putschversuch im Jahr 2016 als Vorwand für eine Einschränkung von Grundrechten nutzte und Oppositionelle und Journalisten inhaftieren liess, sind die Beziehungen eisig. Die EU legte die EU-Beitrittsverhandlungen und Gespräche über eine Erweiterung der bestehenden Zollunion auf Eis. Mit Kilicdaroglu kann das alles nur besser werden, lautet deswegen in Brüssel die vorherrschende Meinung.
In der Ampel-Koalition gibt man sich auch hinter vorgehaltener Hand zurückhaltend. Selbst wenn das Bündnis von Kilicdaroglu gewinne, bleibe abzuwarten, wie sich die unterschiedlichen Partner inhaltlich zusammenfinden würden, ist zu hören. Dies gelte auch für die grossen Themen wie die Haltung der Türkei zu Russland, die Durchsetzung von Sanktionen oder den Umgang mit den Flüchtlingen.
Erdogans islamisch-konservative AKP kam 2002 an die Macht. Ein Jahr später wurde Erdogan Ministerpräsident, seit 2014 ist er Staatspräsident. In seinen ersten Regierungsjahren galt Erdogan als Reformer und sorgte für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Viele seiner eigenen Reformen hat Erdogan inzwischen zurückgedreht. Die regierungskritischen Gezi-Proteste, die sich in zwei Wochen zum zehnten Mal jähren, liess Erdogan niederschlagen.
Die Parlaments- und Präsidentenwahl hätte regulär im Juni stattgefunden. Erdogan hatte sie aber per Präsidialdekret auf den 14. Mai vorgezogen. Wahlbeobachter der OSZE und des Europarats verfolgen die Abstimmung.
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