Russischer Ökonom über die Stimmung im Land «Viele Leute fühlen sich als Geisel der Situation»

Von Andreas Fischer

25.3.2022

«Ich fühle mich traurig und deprimiert»

«Ich fühle mich traurig und deprimiert»

Passanten in Moskau beschreiben gegenüber Reuters unterschiedliche Auswirkungen auf ihren Alltag.

10.03.2022

Die Sanktionen gegen Russland werden schärfer, immer mehr westliche Firmen verlassen freiwillig das Land. Ein Moskauer Experte erklärt im Interview, wie die Bevölkerung darunter leidet – und warum sie trotzig ist.

Von Andreas Fischer

25.3.2022

Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine trifft auch die eigene Bevölkerung. Der Moskauer Wirtschaftsexperte Oleg Buklemishev befürchtet angesichts verschärfter wirtschaftlicher Massnahmen gegen Russland schlimme Zeiten für die Bevölkerung.

Besonders schwerwiegend seien informelle Sanktionen, also der freiwillige Rückzug vieler westlicher Firmen. In erster Linie geht es für die Menschen nun ums Überleben, erklärt Buklemishev in einem Interview mit blue News, das unter besonderen Vorzeichen geführt wird.

Zur Person: Oleg Buklemishev
zVg

Wirtschaftswissenschaftler Oleg Buklemishev forscht und lehrt an der Staatlichen Lomonossow-Universität Moskau. Der Direktor des Forschungszentrums für Wirtschaftspolitik leitete in den 1990er-Jahren die Abteilung «Internationale Finanzmärkte» im russischen Finanzministerium.

Sie haben bei der Verabredung zu diesem Interview geschrieben, dass Skype und WhatsApp noch verfügbar sind: Erwarten Sie, dass die Dienste in absehbarer Zeit abgeschaltet werden?

Diese Möglichkeit besteht. Es gibt in Russland zwar noch einige unabhängige Medien, die sich über solche Kanäle mit wichtigen Themen beschäftigen. Allerdings wurden auch einige Gesetze verabschiedet, die einschränken, was man sagen kann. Eine ehemalige Studentin hat mir erst gestern mitgeteilt, dass ihr Freund angeklagt wurde, weil er in den sozialen Netzwerken eine Nachricht weiterverbreitet hat.

Können wir dann heute überhaupt frei miteinander reden oder bekommen Sie Schwierigkeiten, wenn das Interview veröffentlicht wird?

Ich glaube, wir können noch frei reden, aber Sie müssen verstehen, dass ich gewisse Wörter einfach nicht benutzen und mich zu gewissen Themen nicht äussern darf. 

Welchen Einfluss haben diese Einschränkungen auf Ihre Arbeit an der Universität?

Ich arbeite seit mehr als zehn Jahren hier, in der Zeit habe ich keinen Druck von aussen gespürt. Das ist bislang so geblieben. Trotzdem muss ich aufpassen. Zumal ich zu den Unterzeichnern einer Petition von Wissenschaftler*innen zum Ukraine-Konflikt gehöre, die vor drei Wochen lanciert wurde.

Viele Firmen haben sich aus Russland zurückgezogen, andere wie der Lebensmittelkonzern Nestlé machen weiter eingeschränkte Geschäfte und berufen sich auf die Grundversorgung der Bevölkerung.

Ich betrachte Geschäftsaktivitäten von ausländischen Firmen nicht von einem moralischen Standpunkt aus, sondern von einem wirtschaftlichen. Fakt ist aber auch, dass es neben Wirtschaftlichkeit und Finanzen noch andere Faktoren gibt, die in Unternehmen wichtig sind. Es ist auf jeden Fall interessant, zu analysieren, wie sich Werte von grossen Konzernen verschieben.

Darüber diskutieren wir im Kollegenkreis ausgiebig: Ich bin aber kein Moralexperte und kann daher nicht sagen, ob es richtig oder falsch ist, dass Firmen weiter in Russland aktiv sind. Was ich allerdings weiss: Konzerne haben kein Herz, Menschen haben Herzen. Es liegt also immer an den Besitzern der Konzerne, ihre Geschäftspolitik zu definieren.

Wie hart treffen die aktuellen westlichen Sanktionen Russland wirklich?

Westliche Sanktionen hat es schon im Jahr 2014 gegeben. Damals waren sie aus wirtschaftlicher Sicht bedeutend weicher.

Welchen Einfluss haben sie auf die russische Wirtschaft?

Es sind ziemlich breit gefächerte Sanktionen, einige wirken sich stärker aus als andere. Was man dabei nicht vergessen sollte: Sanktionen können dazu beitragen, totalitäre Regimes zu konsolidieren. Sie ermöglichen es den Machthabern, böse ausländische Kräfte für Miseren verantwortlich zu machen.

Es gibt einen Unterschied zwischen formellen und informellen Sanktionen. Formelle Sanktionen sind von Ländern offiziell beschlossen und haben eine gesetzliche Grundlage. Sie lassen sich dadurch auch leicht aufheben, wenn der Sanktionsgrund wegfällt.

Wenn wir über den freiwilligen Rückzug von Firmen reden, dann sind das vor allem Sanktionen, die von der öffentlichen Meinung beeinflusst sind – sie könnten noch lange andauern. Die russische Bevölkerung würde darunter leiden. Diese informellen Sanktionen sind die gefährlicheren für die Menschen, die hier leben.

Was würde denn passieren, wenn sich westliche Nahrungsmittelmultis und Pharmakonzerne komplett zurückziehen würden?

Wenn man nur von einem Unternehmen wie etwa Nestlé sprechen würde, dann wäre das eine Sache: Aber es verlassen eben zurzeit Hunderte Firmen Russland oder stellen die Produktion ein. Das ist etwas ganz anderes und beutetet, dass sich die Versorgungslage in Russland deutlich verschlechtern wird. Das kann man schon merken.

Wie machen sich die westlichen Sanktionen im Alltagsleben konkret bemerkbar?

Es wird schwieriger, oder sagen wir: weniger komfortabel. Ich kann zum Beispiel nicht mehr mit meinem Telefon bezahlen, weil die entsprechenden Dienste nicht mehr funktionieren. Im Kino kann ich keine Filme mehr aus Europa und Hollywood sehen. Man bekommt immer weniger technische Geräte aus dem Westen, und vor allem keine Ersatzteile mehr.

Wie sieht es bei den Lebensmitteln aus?

Das Angebot in den Supermärkten ist begrenzt, die Auswahl an Produkten wird kleiner, die Preise steigen. Die Regale sind nicht ganz leer, noch gibt es genügend Lagerbestände zum Auffüllen. Aber es wird schwieriger.

Kann die russische Wirtschaft die Ausfälle durch den Rückzug von westlichen Firmen kompensieren?

Das ist nicht die wichtigste Frage: Erst einmal geht es ums Überleben. Die Menschen brauchen ja erst einmal genug Geld, um die teurer werdenden Lebensmittel zu bezahlen.

Um sanktionsbedingte Ausfälle zu kompensieren, braucht es Investitionen und neue Lieferketten. Auf einheimische Produktion umzustellen oder andere Lieferanten wie China zu finden, geht nicht ohne Zeit und Geld. Zudem würden die Produkte viel teurer. Damit haben wir Erfahrung: Nach den EU-Sanktionen 2014 hatte Putin so etwas wie Gegensanktionen verhängt.

Russland importierte zum Beispiel kein Gemüse und andere Lebensmittel mehr aus der EU. Es ist damals niemand verhungert, aber die Auswahl in den Regalen wurde deutlich kleiner, die Preise dafür höher. Russland wird auch jetzt überleben, aber man müsste den Gürtel enger schnallen.

Regt sich da gar kein Unmut?

Wissen Sie, Russen sind sehr geübt darin, zu leiden und sich irgendwie durchzuwursteln – auch über Jahre hinweg. Das haben sie zum Beispiel in den 1990er-Jahren bewiesen, als die Wirtschaft des Landes zusammenbrach und die Nahrungsmittel knapp wurden. Damals haben viele auf einem kleinen Stückchen Land Kartoffeln und Gemüse angebaut und ihre eigenen Lebensmittel produziert. So etwas könnte jetzt wieder geschehen.

Aber das Land und die Menschen haben sich doch verändert seitdem.

Das Land ist zwar ein anderes als 1990, aber jetzt sind wir wieder an dem Punkt von vor 30 Jahren. Die Tragik dabei: Es wäre wahrscheinlich so oder so passiert, auch ohne die aktuelle Eskalation, weil sich die Regierung den Realitäten verschlossen hat. Das hat auch die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel festgestellt. Sie sagte nach einem Gespräch mit dem russischen Präsidenten: «Putin lebt in einer anderen Welt.»

Wie ist denn die Stimmung auf der Strasse in dieser Frage?

Man erträgt die Situation, an den Entscheidungen der Regierung kann man sowieso nichts ändern. Viele Leute fühlen sich als Geisel der Situation.

Besteht die Gefahr, dass wirtschaftliche Massnahmen gegen Russland das Volk mehr in des Kremls tröstende Arme treiben?

Es ist kein Geheimnis, dass viele Russen Putin und seine Operationen unterstützen. Die sind jetzt in einer Art Trotzzustand oder Survival Mode: Man hält für das Wohl des Landes zusammen, verschanzt sich sozusagen im Schützengraben und wartet, bis der Sturm vorüber ist. Wenn ich sie frage, wie lange sie das durchhalten können, bekomme ich keine Antwort. Sie wissen es einfach nicht, und es ist ihnen auch nicht bewusst, dass es ziemlich lange dauern könnte und was alles zusammenbrechen wird.

Die Unterstützung für Putin soll aber nicht so hoch sein wie bei der Annexion der Krim 2014. Das zeigen zumindest Umfragen.

Zunächst einmal: Ich glaube keinen Zahlen aus solchen Umfragen. Die sind mit Vorsicht zu geniessen. Unabhängige Meinungsforschung ist nicht die grösste Stärke Russlands. Zurzeit verweigern 80 Prozent der befragten Personen die Antwort – aus Gründen, die meistens etwas mit Angst zu tun haben.

Also weiss man schlicht nicht, wie viel Rückhalt der Kreml in der Bevölkerung wirklich hat: Rechnen Sie mit aufkommenden Protesten?

Das ist schwer zu sagen. Zum einen haben Hunderttausende Russen das Land in den vergangenen Wochen bereits verlassen, viele von ihnen für immer. Ausserdem gibt es eine strenge Informationspolitik von der Regierung. Viele Russen leben seit Jahren mit dem Mindset, dass Putin der richtige Mann zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle ist. Nur wenige sind an einer detaillierten Wahrheit interessiert. Wenn die Informationsblockade fällt, dann könnte das einen sehr schmerzhaften Prozess in Gang setzen.