«Schuld und Sühne» Selenskyjs Abrechnung mit Putin

Von Benno Schwinghammer, Christina Horsten, Christiane Jacke, Friedemann Kohler und Jörg Blank, dpa

22.9.2022 - 05:11

Vor der UN-Vollversammlung fordert Wolodymyr Selenskyj Gerechtigkeit. Sieben Monate nach Kriegsbeginn ist er der vom Westen gefeierte Widerstandskämpfer gegen Russland. Doch der Rückhalt ist nicht bedingungslos.

22.9.2022 - 05:11

Am Ende starren die Vertreter Russlands reglos ins Leere. Um sie herum erhebt sich fast die gesamte UN-Vollversammlung und applaudiert Wolodymyr Selenskyj. Mehr als 20 Minuten hat der ukrainische Regierungschef bei der Generaldebatte zur Weltgemeinschaft gesprochen. Einmal mehr in einem olivgrünen Militärshirt und mit dem Selbstbewusstsein eines Präsidenten im Krieg, der auf dem Schlachtfeld vorrückt. Sein Gesicht ist von Furchen der Erschöpfung durchzogen, doch die Worte gegen Moskau sind energisch: «Russland wird gezwungen sein, diesen Krieg zu beenden.» Und das Nachbarland müsse für seine Verbrechen bestraft werden.

Nicht ein einziges Mal nennt der 44-Jährige den verantwortlichen Aggressor, Russlands Präsidenten Wladimir Putin, beim Namen. Doch Selenskyj lässt keinen Zweifel daran, wen er meint. Es gebe nur einen, «der jetzt sagen würde, wenn er meine Rede unterbrechen könnte, dass er mit diesem Krieg zufrieden ist». Mit Blick auf Russland schiebt er hinterher: «Aber wir werden von diesem Gebilde nicht über uns bestimmen lassen, obwohl es der grösste Staat der Welt ist.»

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht am 21. September 2022 per Video vor der UN-Vollversammlung in New York. 
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht am 21. September 2022 per Video vor der UN-Vollversammlung in New York. 
Bild: Keystone/EPA/Peter Foley

Putin fehlt beim grössten diplomatischen Treffen des Jahres – trotzdem dreht sich hier alles um seinen Krieg. Selenskyj ist in New York der vom Westen gefeierte Widerstandskämpfer, der per Ausnahmegenehmigung via Video sprechen darf. Im weltbekannten Saal am East River schaut ihm am Mittwochabend auch seine Frau zu, die ukrainische First Lady Olena Selenska. Neben ihr sitzt Aussenminister Dmytro Kuleba, der an diesem Donnerstag seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow in einer mit Spannung erwarteten Sitzung des UN-Sicherheitsrats die Stirn bieten soll.

Teilmobilmachung: «Akt der Verzweiflung»

Nur wenige Stunden vor Selenskyjs Auftritt bestimmte die Videobotschaft eines anderen Mannes weltweit die Nachrichten. Putin – im dunklem Anzug – verkündete die Teilmobilmachung der Streitkräfte. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz wertete dies angesichts der Gebietsverluste der russischen Armee in der Ukraine als «Akt der Verzweiflung».

Wie gefährlich die Situation aber gerade deshalb ist, zeigt sich darin, dass Putin erneut kaum verhohlen mit dem Einsatz von Atomwaffen droht: «Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht wird, werden wir zum Schutz Russlands und unseres Volkes unbedingt alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen. Das ist kein Bluff.»

Im März hatte sich die 193 Mitglieder zählende Vollversammlung mit historischen 141 Stimmen hinter Selenskyj gestellt und Russlands Krieg verurteilt. Doch die Stimmung bei den UN hat sich etwas verändert. In einigen Staaten vor allem in Afrika und Lateinamerika herrscht Kriegsmüdigkeit. Dauernde Attacken gegen die Führung in Moskau, bei der so manche Regierungen bereits in der Schuld stehen oder auf künftige Unterstützung hoffen, wollen und können sie sich nicht mehr leisten.

Keine Neutralität, höchstens Gleichgültigkeit

Auch für sie hat Selenskyj an diesem Abend eine klare Botschaft: Neutralität gebe es in diesem Krieg nicht, höchstens Gleichgültigkeit. «Sie tun so, als ob Sie sich für die Probleme der anderen interessieren würden. Sie kümmern sich formal um den anderen, Sie zeigen Sympathie nur aus Protokollgründen», ruft er Ländern entgegen, die sich um eine eindeutige Position zu Russland drücken. Eine solche Haltung schaffe die Voraussetzungen für Krieg, kritisiert Selenskyj. Dabei müsse die Voraussetzung für Frieden geschaffen werden. Und dafür brauche die Ukraine Geld und Waffen.

Russland müsse isoliert und zur Verantwortung gezogen werden für das Morden, die Folter, die Erniedrigungen und die desaströsen Turbulenzen, in die es die Ukraine gestürzt habe, fordert Selenskyj. Putins Führung plane bereits neue Gräueltaten wie in Butscha oder Isjum. «Russland will Krieg, aber Russland wird nicht in der Lage sein, den Lauf der Geschichte zu stoppen. Die Menschheit und das Völkerrecht sind stärker als ein terroristischer Staat.»

Es müsse Gerechtigkeit geben, verlangt Selenskyj. «Es wurde ein Verbrechen gegen die Ukraine begangen, und wir fordern eine Bestrafung.» Wohl in Anspielung auf den weltberühmten Roman von Fjodor Dostojewski sagt er: Russland sei schliesslich gut vertraut mit dem Prinzip von «Schuld und Sühne».

Von Benno Schwinghammer, Christina Horsten, Christiane Jacke, Friedemann Kohler und Jörg Blank, dpa