Nur noch neun Monate Schwieriger Gang nach Brüssel - May beim Brexit zwischen zwei Stühlen

Jill Lawless, AP

28.6.2018

Nicht zu beneiden: Premierministerin Theresa May.
Nicht zu beneiden: Premierministerin Theresa May.
Keystone

Nur noch neun Monate bis zum Brexit - da wird es Zeit für Klarheit über das künftige Verhältnis zwischen der EU und Grossbritannien. Aber Premierministerin Theresa May sitzt daheim zwischen zwei Stühlen.

Theresa May ist nicht zu beneiden. Die EU-Führungsriege wünscht sich, dass die britische Premierministerin auf dem Brüsseler Gipfel am (heutigen) Donnerstag und Freitag konkreter als bisher Auskunft darüber geben wird, wie sich Grossbritannien die Beziehungen zur Gemeinschaft nach dem Brexit vorstellt. Aber May wird wenig Neues zu berichten haben. Zwei Jahre nach dem Volksentscheid für einen EU-Austritt und neun Monate vor dem offiziellen Vollzug der Scheidung steht die Regierungschefin zu Hause vor argen Herausforderungen.

May ist gefangen zwischen zwei verschiedenen Visionen vom künftigen Leben ausserhalb des 28-Nationen-Blocks. Auf der einen Seite stehen EU-freundliche Parlamentarier und besorgte Geschäftsleute, die enge wirtschaftliche Verbindungen mit Grossbritanniens grösstem Handelspartner aufrechterhalten wollen. Auf der anderen Seite ist May mit Pro-Brexit-Kräften in ihrer Konservativen Partei konfrontiert, die einen klaren Bruch wollen. Und die drohen, sie zu Fall zu bringen, sollte sie Kompromisse eingehen.

«Nach zwei Jahren sollte man erwarten, dass wir wissen, in welche Richtung wir gehen», sagt Wirtschaftsprofessor Jonathan Portes vom Londoner King's College. Aber derzeit reiche die Bandbreite von einem Verlassen der EU «ohne Deal» - also einem Rahmenwerk für künftige Beziehungen - bis hin zu einem pragmatischeren Ausstieg aus dem Brexit.

Bisher hat May ihre fragile Regierung am Leben erhalten, indem sie grosse Entscheidungen aufschob und in ihren Erklärungen vage blieb. Grossbritannien werde die EU verlassen, aber eine «tiefe und spezielle Partnerschaft» zu ihr haben, sagte sie. Und Ziel sei es, nach dem Ausscheiden aus dem gemeinsamen Markt ohne Zollbarrieren «möglichst freie und reibungslose» Handelsbeziehungen zu erreichen. Die Grenze zwischen dem zu Grossbritannien gehörenden Nordirland und dem EU-Mitglied Irland werde nahezu unsichtbar bleiben, ohne Zollabfertigungen oder andere Grenzinfrastrukturen.

EU-Vertreter wollen nun von May detailliert hören, wie das alles erreicht werden soll. Sie haben wiederholt gewarnt, dass Grossbritannien sich nicht die Rosinen herauspicken könne. Das heisst beispielsweise, es soll nicht wie ein EU-Mitglied die Vorteile eines freien Zugangs zu einem Markt mit 500 Millionen Verbrauchern nutzen, ohne die damit einhergehenden Verantwortungen zu übernehmen - etwa, wenn es um die Bewegungsfreiheit von EU-Bürgern in Richtung Grossbritannien geht.

In der EU nimmt mittlerweile die Ungeduld zu und die Besorgnis, dass der von beiden Seiten ausgearbeitete Zeitplan nicht eingehalten werden kann. Er sieht eine Scheidungsvereinbarung bis Oktober vor, damit die Parlamente der EU-Länder sie vor März 2019 ratifizieren können.

«Lasst mich ganz direkt sein», formulierte es der irische Premierminister Leo Varadkar kürzlich. «Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um bis zum britischen Ausscheiden aus der EU im März eine Übereinkunft festzuzurren und so vorbereitet zu sein, dass sie umgesetzt werden kann.» Varadkar zufolge beschleunigen die EU-Länder Planungen für einen Brexit ohne Vertrag, der zusehends wahrscheinlicher wird.

Derweil wächst auf der Insel das Brexit-Chaos. Aussenminister Boris Johnson, einer der lautstärksten Ausstiegsbefürworter im Kabinett, hat öffentlich Front gegen May sowie den Finanzminister und EU-Freund Philip Hammond gemacht. Mehrere Dutzend harte konservative Brexit-Verfechter, angeführt von Jacob Rees-Mogg, haben May mit dem Entzug ihrer Unterstützung gedroht, sollte sie keinen «sauberen» EU-Ausstieg bewirken.

Im Parlament tauschen Vertreter beider Seiten Beleidigungen aus, und euroskeptische Zeitungen brandmarken Befürworter eines «sanften» Ausstiegs als «Saboteure» und «Volksfeinde». Der EU-freundliche konservative Parlamentarier Dominic Grieve berichtete kürzlich, Gleichgesinnte hätten gar Todesdrohungen erhalten. Es sei so verrückt geworden, dass man sich langsam frage, «ob die kollektive Vernunft in diesem Land verschwunden ist».

Unterdessen beklagen Geschäftsleute, die Unsicherheit schade der Wirtschaft. Tatsächlich hat das Wachstum seit dem Brexit-Referendum stagniert und zählt nun zu den schwächsten unter den grösseren Industrienationen. «In globalen Vorstandsetagen herrscht zunehmend Frustration über das langsame Verhandlungstempo», sagt Mike Hawes, Chef der Vereinigung der britischen Autohersteller und -händler. Nach deren Angaben sind die Investitionen in der Autoindustrie im Vergleich zu 2017 fast um die Hälfte zurückgegangen.

Auch BMW hat vor Schäden für den Automobilsektor gewarnt und der Flugzeugbauer Airbus hat sogar damit gedroht, sich aus Grossbritannien zurückzuziehen, wenn das Land die EU ohne einen Vertrag über künftige Handelsbeziehungen verlasse. Airbus beschäftigt auf der Insel etwa 14 000 Menschen.

In der kommenden Woche will May auf dem Landsitz Chequers mit ihrem Kabinett feste Vorschläge für die künftige Handels- und Sicherheitspolitik mit der EU ausarbeiten. Dabei gilt es, gemeinsame Grundlagen für harte Pro-Brexit-Verfechter wie Johnson und Pro-EU-Leute wie Hammond zu finden.

Anand Menon von der Denkfabrik U.K. in a Changing Europe sieht bei der Regierung allmählich die Erkenntnis dämmern, dass es eine Wahl zwischen zwei krassen Varianten gebe. Die eine sei eine Freihandelsvereinbarung, die zwar Waren abdeckt, aber nicht den ausgedehnten britischen Dienstleistungssektor. Die andere sei «eine Art Verkleidung des Status quo», der Grossbritannien mehr oder weniger im gemeinsamen Markt und in der Zollunion belassen würde.

Ersteres könne wirtschaftlich sehr schmerzhaft für die Insel sein, Letzteres vielleicht politisch unmöglich für May, prophezeit Menon. «Wenn wir in den Herbst gehen, muss die Premierministerin einige Entscheidungen treffen», sagt er. Und wie auch immer sie ausfielen, «wird sie Mitglieder ihrer Partei und Regierung schwer enttäuschen».

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