Ukrainer beschreiben Gräuel «Sie haben auf Zivilisten geschossen»

AP/toko

10.3.2022 - 21:03

Menschen überqueren unter einer zerstörten Brücke den Fluss Irpin unweit von Kiew.
Menschen überqueren unter einer zerstörten Brücke den Fluss Irpin unweit von Kiew.
EPA/ROMAN PILIPEY/Keystone

Mehr als zwei Millionen Menschen sind bisher aus der Ukraine geflohen. Viele von ihnen sind Überlebende, die schreckliche Dinge gesehen haben. Ihre Augenzeugenberichte könnten die Grundlage für eine Anklage wegen Kriegsverbrechen bilden.

10.3.2022 - 21:03

Schon mehr als zwei Millionen Menschen sind aus der Ukraine geflohen. Sie nehmen teils furchtbare Erlebnisse aus ihrer Heimat mit in ihre neuen Zufluchtsorte in Europa und darüber hinaus.

Einige könnten Augenzeugenberichte abgeben, die als Grundlage für eine Anklage wegen Kriegsverbrechen dienen könnten. So mancher hat es aus einigen der am stärksten von russischen Streitkräften getroffenen Städte herausgeschafft, viele haben Schlimmes gesehen.

«Werden wir überleben?»

«Es war sehr unheimlich», sagte Ihor Diekow, einer der vielen Menschen, die den Fluss Irpin ausserhalb von Kiew auf den rutschigen Holzplanken einer Behelfsbrücke überquerten, nachdem die Ukrainer die Betonbrücke gesprengt hatten, um den russischen Vormarsch zu verlangsamen. Als er die Brücke überquerte, hörte er Schüsse. Am Strassenrand sah er Leichen. «Die Russen haben versprochen, einen (humanitären) Korridor zu schaffen, was sie nicht eingehalten haben. Sie haben auf Zivilisten geschossen. Das ist absolut wahr, ich habe es miterlebt. Die Menschen waren verängstigt.»

«Ich habe Angst», sagte Anna Potapola, eine Mutter von zwei Kindern, die aus der Stadt Dnipro nach Polen floh. «Als wir die Ukraine verlassen mussten, fragten mich meine Kinder: «Werden wir überleben?» Ich habe grosse Angst und fürchte um die Menschen, die zurückbleiben.»

Solche Berichte werden in den kommenden Tagen immer häufiger die Welt erreichen, da immer mehr Menschen durch die fragilen humanitären Korridore gelangen.

Lebenswichtige Güter werden knapp

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Mittwoch, dass drei solcher Fluchtkorridore aus den bombardierten Gebieten funktionierten. Die Menschen verliessen Sumy im Nordosten nahe der russischen Grenze, Vororte von Kiew und die Stadt Enerhodar im Süden, in der die russischen Streitkräfte ein grosses Atomkraftwerk übernommen haben. Insgesamt seien etwa 35'000 Menschen in Sicherheit gebracht worden.

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Für Donnerstag waren weitere Evakuierungen angekündigt. In vielen Städten werden Lebensmittel, Wasser, Medikamente und andere lebenswichtige Güter knapp. Witali Klitschko, der Bürgermeister von Kiew, erklärte am Donnerstag, etwa zwei Millionen Menschen, «jeder zweite Einwohner» der Hauptstadt, habe das Stadtgebiet verlassen.

Mindestens eine Million Menschen sind innerhalb der Ukraine vertrieben worden, zusätzlich zu der wachsenden Zahl von Flüchtlingen, sagte der Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration, António Vitorino, vor Reportern. Das Ausmass der humanitären Krise sei so extrem, dass das «Worst-Case-Szenario» der IOM-Notfallplanung übertroffen worden sei. Russisch- und ukrainischsprachige ausgebildete Psychologen würden dringend benötigt, sagte Vitorino, da zu den Flüchtenden immer mehr traumatisierte Augenzeugen kämen.

US-Vizepräsidentin Kamala Harris schloss sich am Donnerstag der Forderung nach einer internationalen Untersuchung wegen mutmasslicher Kriegsverbrechen gegen Russland an und brachte ihre Empörung über die Bombardierung einer Entbindungsklinik in Mariupol zum Ausdruck. Es sollte auf jeden Fall eine Untersuchung geben, sagte sie, «und wir sollten alle zusehen».

UNO spricht von über 500 toten Zivilisten

Seit dem Einmarsch der russischen Streitkräfte vor zwei Wochen wurden in der gesamten Ukraine vermutlich Tausende von Menschen getötet, sowohl Zivilisten als auch Soldaten. In der blockierten Hafenstadt Mariupol sind nach Angaben der Stadtverwaltung 1200 Einwohner getötet worden, darunter drei bei der Bombardierung der Geburtsklinik. In der zweitgrössten Stadt der Ukraine, Charkiw, wurden nach Angaben der Staatsanwaltschaft 282 Einwohner getötet, darunter mehrere Kinder.

Das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen teilte am Mittwoch mit, dass in den zwei Wochen seit dem Einmarsch Russlands 516 Zivilisten in der Ukraine getötet worden seien, darunter 37 Kinder. Die meisten von ihnen seien durch den Einsatz von Explosivwaffen mit grosser Reichweite ums Leben gekommen. Das Büro geht davon aus, dass die tatsächliche Zahl der Opfer erheblich höher ist und wies darauf hin, dass in den Zahlen einige Gebiete mit heftigen Kampfhandlungen wie in Mariupol nicht enthalten seien.

Einige der Flüchtlinge haben diese Todesfälle selbst miterlebt. Ihre Aussagen werden entscheidend dazu beitragen, Russland für die Angriffe auf Zivilisten und zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser und Wohnhäuser zur Rechenschaft zu ziehen. Der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs hat vergangene Woche eine Untersuchung eingeleitet, die sich gegen hochrangige Beamte richten könnte, die für Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht werden. Die Beweissammlung hat begonnen.

AP/toko