Zwangsrekrutierungen im Donbass «Sie jagen uns wie streunende Katzen»

Von Andrea Moser

28.7.2022

Russische Pässe an Einwohner im Südosten der Ukraine

Russische Pässe an Einwohner im Südosten der Ukraine

STORY: Russische Pässe an ukrainische Einwohner. Wie russische Medien am Mittwoch berichtet haben, wurden von Beamten unter anderem in der von Russland besetzten Stadt Enerhodar im Südosten der Ukraine damit begonnen, russische Pässe an die Einwohner auszugeben. Fünfundzwanzig Einwohner hätten bereits Pässe erhalten, teilten Beamte der Nachrichtenagentur RIA mit, nachdem der russische Präsident Wladimir Putin im Juli ein Dekret unterzeichnet hatte, das allen Bürgern der Ukraine einen vereinfachten Weg zur Erlangung der russischen Staatsbürgerschaft bietet. Dabei handelt es sich um einen schweren Eingriff in die Souveränität der Ukraine, die sich seit Ende Februar gegen die russische Invasion zu wehren versucht. Im Rahmen der Verteidigung gegen den Angriffskrieg war auch Wolodymyr Selenskyjs Ehefrau Olena Selenska am Mittwoch in die USA gereist. Die Frau des ukrainischen Präsidenten warb vor dem US-Kongress in Washington für weitere Waffenlieferungen an ihr Land. Selenska warf Russland in ihrer Rede vor, einen Terrorkrieg gegen die Ukraine zu führen. Sie betonte, man brauche mehr Waffen, um die Häuser aller Menschen zu schützen. Selenska bat in diesem Zusammenhang ausdrücklich um Luftabwehrsysteme. Zugleich dankte sie den Vereinigten Staaten für die bisherige Hilfe.

21.07.2022

Sie stehen auf der Seite ihres Landes, und müssen trotzdem für den Feind kämpfen: In besetzten Gebieten der Donbass-Region sollen ukrainische Männer von prorussischen Separatisten vermehrt zwangsrekrutiert werden. 

Von Andrea Moser

Ein Mann versteckt sich seit Monaten in seiner eigenen Wohnung. Er traut sich nicht mehr auf die Strasse. Zu gross ist die Angst, dass er angehalten, kontrolliert und anschliessend für militärtauglich erklärt wird. Allerdings nicht für die Armee seines Landes, sondern für die Russen. Szenen wie diese sollen sich in den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk immer wieder abspielen. 

Dort sollen ukrainische Männer von Russen und prorussischen Separatisten gezwungen werden, gegen das eigene Land zu kämpfen. Das schreibt der «Guardian» und beruft sich dabei auf glaubwürdige Beweise, darunter ein Video, aufgenommen Ende Juni. Dieses zeigt, wie ein Mann vor den Augen seiner Frau in ein Fahrzeug gezerrt wird. 

Darauf folgt ein Wortgefecht zwischen der Frau und zwei Beamten. Einer der beiden hält den ukrainischen Pass ihres Mannes in der Hand. Einer der Männer rechtfertigt sich, dass er vom Wehrpflichtamt sei und es sich um eine allgemeine Mobilisierung handle. Die Dokumente des ukrainischen Mannes müssten geprüft werden. 

«Sie werden gewaltsam zur Armee geschickt»

Das Video wurde auf Telegram veröffentlicht, wo es jedoch kurze Zeit später blockiert wurde. Oleksandra Matwijtschuk, ukrainische Juristin und Menschenrechtsaktivistin, hat das Video zugeschickt bekommen. Teile davon veröffentlichte sie auf daraufhin auf Twitter. «Seit dem 24. Februar werden Männer auf offener Strasse angehalten, ihre Pässe werden ihnen abgenommen und sie werden gewaltsam zur Armee geschickt», sagt Matwijtschuk im «Guardian». 

«Es ist grausam»

Bereits seit Jahren dokumentiert Matwijtschuk als Leiterin des Center for Civil Liberties in Kiew Menschenrechtsverletzungen, darunter auch Zwangsrekrutierungen in den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Allerdings hätten diese seit Beginn des Krieges auf die Ukraine stark zugenommen. 

Matwijtschuk geht davon aus, dass das Video Mitte Juni gedreht wurde, als die Einberufungskommandos eine neue Welle von Zwangsrekrutierungen gestartet hätten. Auf der Suche nach Männern seien Kontrollpunkte auf Autobahnen und an Ausfahrten zu Städten errichtet worden. 

«Es ist grausam. Sie fordern von ukrainischen Männern, dass sie andere ukrainische Staatsbürger töten sollen», sagt Matwijtschuk. Sie schätzt, dass insgesamt rund eine halbe Million Ukrainer in der Donbass-Region für eine Zwangsrekrutierung der Russen infrage kommen.

«Sie jagen uns»

Das Center for Civil Liberties erhalte seit Ende Februar immer wieder Briefe von Bürgern, die um Hilfe bitten. Beispielsweise von einem Mann aus der Region Luhansk. Aus Angst vor einer Zwangsrekrutierung habe er sich in seiner Wohnung versteckt und traue sich nicht mehr auf die Strasse. Seit Monaten würden Streifenwagen nach Männern suchen.

«Sie jagen uns wie streunende Katzen», zitiert Matwijtschuk aus dem Brief. Auch tschetschenische Kämpfer würden bei der Suche nach Männern helfen. In seinem Brief fragt der Mann, wie er Russland vor Gericht zur Rechenschaft ziehen könne. 

Welches Schicksal den Mann, der im Video von prorussischen Separatisten festgehalten wurde, ereilt hat, weiss Matwijtschuk übrigens nicht. Das Video endet damit, dass der Mann gehen durfte. Allerdings nur unter der Bedingung, dass er sich innert zwei Stunden im Wehrpflichtbüro meldet, sagt Matwijtschuk. Was mit ihm danach passiert ist, ist nicht bekannt. 

Ein prorussischer Separatist sitzt vor der Flagge der selbsternannten Republik Donezk. 
Ein prorussischer Separatist sitzt vor der Flagge der selbsternannten Republik Donezk. 
KEYSTONE/AP Photo/Darko Vojinovic