Denkbares Szenario So könnte Putins Invasion der Ukraine aussehen

Von Philipp Dahm

31.1.2022

Gruss nach Odessa: Im April 2021 übt das russische Militär amphibische Landungen auf der Krim.
Gruss nach Odessa: Im April 2021 übt das russische Militär amphibische Landungen auf der Krim.
KEYSTONE

Erst ist der Süden der Ukraine dran – und wenn der russische Korridor steht, wird östlich des Dnepr angegriffen: Falls sich Wladimir Putin für den Einmarsch entscheidet, wäre das wohl die Marschrichtung.

Von Philipp Dahm

31.1.2022

Wird es in der Ukraine einen offenen Krieg geben? Wenn sich der russische Präsident Wladimir Putin wirklich für einen Angriff entscheiden sollte, würde er es bald tun. Die Krise hat die Öl- und Gaspreise in die Höhe schiessen und Russland ein ordentliches Sümmchen einstreichen lassen. Nicht zuletzt ist der Gashahn ein Druckmittel, um den Europäern im Streitfall einzuheizen.

Das ist mit Grund dafür, dass westliche Geheimdienste stets vor einer Invasion Ende Januar oder Februar gewarnt haben. Aktuell gibt es noch keine Anzeichen dafür: Erst wenn im grossen Stil Verpflegung, medizinische Güter und Treibstoff an der Grenze deponiert werden, würde auch die Ukraine nervös werden.

Nur mit Nachschub effektiv: Russische Einheiten am 26. Januar bei Moskau im Training.
Nur mit Nachschub effektiv: Russische Einheiten am 26. Januar bei Moskau im Training.
EPA

Tatsächlich hat Wolodymyr Selenskyj den Westen gebeten, sich im Ton zu mässigen – auch wenn die Bedrohung durch Russland «unmittelbar und konstant» sei. Dennoch nervt sich der ukrainische Präsident Ende der letzten Woche ob Emmauel Macron und Joe Biden: «Sie sagen, morgen gibt es Krieg. Das bedeutet Panik.»

Wie der Angriff ablaufen würde? Darüber lässt sich gut spekulieren: Ein entscheidender Faktor ist Zeit. Je schneller die Kampagne vorüberginge, desto weniger Protest kann die internationale Gemeinschaft diplomatisch organisieren. Nicht zuletzt würde ein längerer Feldzug auch mehr Tote auf russischer Seite bedeuten.

Absolute Luftüberlegenheit ist Russland gewiss: Das Bild zeigt den letzten Check eines russischen Erdkampf-Flugzeugs vom Typ Su-25 in Syrien.
Absolute Luftüberlegenheit ist Russland gewiss: Das Bild zeigt den letzten Check eines russischen Erdkampf-Flugzeugs vom Typ Su-25 in Syrien.
Archivbild: KEYSTONE

Angesichts stetig sinkender Umfragewerte und ständig steigendem Waffen-Nachschub für die Ukraine aus dem Westen könnte sich Putin sowas nicht erlauben. Den Auftakt im Kriegsfall besorgen Flugzeuge und Raketen. Die ukrainische Luftwaffe ist der russischen hoffnungslos unterlegen. Kiew verfügt nur über rund 125 Jets aus sowjetischer Produktion, die nach dem Ausbruch von Feindlichkeiten wohl bereits am Boden zerstört würden.

Phase eins: Korridor im Süden errichten

Neben Flugplätzen und Kommunikationszentren sind Flugabwehr-Stellungen bevorzugte Ziele der ersten Welle, die aus Kampfflugzeugen und Marschflugkörpern vom Typ Iskander bestehen würde. Die Ukraine hat verschiedene Boden-Luft-Raketen der Typen S-300, Buk-M1, SA-15, SA-6 und SA-3, die der absoluten Dominanz Russlands in der Luft im Wege stehen.

Der Beginn des Bodenkrieges dürfte sich vor allem auf die Südukraine konzentrieren. Ein wichtiges Ziel ist hier die Stadt Odessa, das von zwei Seiten attackiert werden könnte: Durch Panzerverbände im Osten, die von der Krim kommen und durch eine amphibische Landung im Westen, für die die entsprechende Schiffe gerade das Schwarze Meer erreicht haben.

Odessa (rot markiert) dürfte sich in einem Krieg von einer Zangenbewegung eingekreist sehen, die von der Krim und von einer amphibischen Landung im Westen der Stadt kommen könnte.
Odessa (rot markiert) dürfte sich in einem Krieg von einer Zangenbewegung eingekreist sehen, die von der Krim und von einer amphibischen Landung im Westen der Stadt kommen könnte.
Karte: Google Earth

Wenn die Einnahme Odessas schnell gelänge, wäre schon viel gewonnen. Russland könnte die Lücke zu Transnistrien schliessen. Das ist der östliche Teil der Republik Moldau: Die Hauptstadt dieses de facto unabhängigen Gebildes, dessen rund 500'000 Einwohner sich an Russland orientieren, ist Tirapol.

Phase zwei und drei: Druck erhöhen, bis Kiew einlenkt

Komplettiert würde der Angriff im Süden von einer Zangenbewegung, in der Truppen von der Krim und vom Donbas-Gebiet kommend einen russischen Korridor südlich des Dnepr etablieren würden. Moskau würde damit auch den Fluss als Nachschub-Quelle für Kiew ausschalten.

Gleichzeitig könnten Truppen von der Ukraine aus und dem Donbas-Gebiet bei Donezk und Luhansk das Areal südlich des Dnepr-Flusses einnehmen. So würde im Süden der Ukraine ein russischer Korridor entstehen.
Gleichzeitig könnten Truppen von der Ukraine aus und dem Donbas-Gebiet bei Donezk und Luhansk das Areal südlich des Dnepr-Flusses einnehmen. So würde im Süden der Ukraine ein russischer Korridor entstehen.
Karte: Google  Earth

Sollte die ukrainische Regierung russischen Forderungen nicht entgegenkommen, könnten mechanisierte russische Einheiten in einer zweiten Phase Gebiete östlich des Dnepr besetzen. Hier wartet die zweitgrösste Stadt der Ukraine auf eine Belagerung: Charkiw hat 1,5 Millionen Einwohner. In der Verlängerung liegt der Verkehrsknotenpunkt Poltawa: In dem Maschinenbau-Zentrum leben etwa 300'000 Menschen.

In einer zweiten Phase könnten russische Truppen von Belgorod auf ihrer Seite über die ukrainische Metropole Charkiw nach Poltawa (markiert) ziehen. Um Kiew könnte dann in einer dritten Phase durch einen Vorstoss aus Belarus heraus ein Belagerungsring gezogen werden.
In einer zweiten Phase könnten russische Truppen von Belgorod auf ihrer Seite über die ukrainische Metropole Charkiw nach Poltawa (markiert) ziehen. Um Kiew könnte dann in einer dritten Phase durch einen Vorstoss aus Belarus heraus ein Belagerungsring gezogen werden.
Karte: Google Maps

Sollte auch dieser Schritt zu keinem russischen Erfolg führen, würde Moskau wohl auf Kiew losgehen. Dieser Angriff würde wahrscheinlich von Belarus aus gestartet werden – so ersparen sich russische Truppen die Überquerung des Dnepr und könnten nach Umgehung des Tschernobyl-Gebietes auf die Hauptstadt vorrücken, um sie zu belagern.

Russlands Kriegsziele

Was wäre bei diesem Konflikt das Kriegsziel des Kreml? Die Loslösung des Donbas-Gebietes oder zumindest eine weitreichende Autonomie sind das eine. Praktischer wäre es jedoch ohnehin, Kiew die Zentralgewalt zu nehmen und aus der Ukraine eine Föderation autonomer Staaten zu machen, die dann so aussehen würde:

Verwaltungsgliederung der Ukraine (englische Schreibweise).
Verwaltungsgliederung der Ukraine (englische Schreibweise).
Commons

In diesem Konstrukt hätte Moskau die Möglichkeiten, sich nach und nach Puzzleteile herausbrechen zu können, weil die autonomen Saaten ihre Aussenpolitik selbst bestimmen könnten. De facto würde es das Ende der Ukraine bedeuten, wie wir sie kennen.

Russland könnte sich Zeit lassen, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen und müsste auch keine internationalen Sanktionen befürchten, sollten sich ukrainische Staaten anschliessen wollen.

Prozentzahl der Personen in der Ukraine, die bei der Volkszählung 2001 Russisch als Muttersprache angegeben haben.
Prozentzahl der Personen in der Ukraine, die bei der Volkszählung 2001 Russisch als Muttersprache angegeben haben.
Bild: Commons/Alex Tora

Zu wenig Soldaten für zu viel Krieg

Wenn Putin angreifen sollte, wird er auf eine schnelle Kampagne setzen, denn 120'000 Soldaten reichen bei Weitem nicht aus, um das Land längerfristig zu kontrollieren. Im Westen der Ukraine müssten die Besatzer mit deutlich mehr Widerstand rechnen. Insgesamt hat landesweit rund ein Drittel der Ukrainer bekundet, im Eroberungsfall gegen Russen kämpfen zu wollen.

Freiwillige beim Training mit der ukrainische Armee am 29. Januar in Kiew.
Freiwillige beim Training mit der ukrainische Armee am 29. Januar in Kiew.
KEYSTONE

Mit ihrer massivem Artillerie- und Panzer-Verbänden hat die russische Armee zwar zwei Trümpfe in der Hand, doch je mehr Zeit vergeht, desto besser wird der Westen den Gegner ausrüsten, um diese Gefahr zu kontern. Was im Kriegsfall anders wäre als 2014 wäre ausserdem die Versorgung der Ukraine mit militärischen Informationen aus dem Westen.

Nimmt Wladimir Putin – wie schon vor sieben Jahren – den Groll der USA und Europas in Kauf und überfällt das Nachbarland trotz der Drohungen des Westens? Gewiss ist am Ende bloss eins: Sollte es wirklich zum bewaffneten Konflikt kommen, wird er viele, viele Menschen das Leben kosten.