Sicherheitsforscher über Massaker in Butscha «Solche Handlungen haben System»

Von Anne Funk

4.4.2022

Ukrainische Soldaten inspizieren nach dem Rückzug der russischen Truppen Butscha. 
Ukrainische Soldaten inspizieren nach dem Rückzug der russischen Truppen Butscha. 
Bild: Keystone/EPA/Atef Safadi

Der Kreml streitet die Verantwortung für die Gräueltaten in Butscha ab. ETH-Forscher Niklas Masuhr dagegen hält russische Kriegsverbrechen für sehr wahrscheinlich – um «den Widerstandwillen der Bevölkerung zu brechen». 

Von Anne Funk

4.4.2022

Das Entsetzen ist gross: Nach dem Abzug russischer Truppen aus Butscha, einer Vorortgemeinde der ukrainischen Hauptstadt Kiew, waren auf den Strassen die Leichen Hunderter Zivilisten gefunden worden, teils mit gefesselten Händen. Während Moskau nicht mit den Gräueltaten in Verbindung gebracht werden will und die Bilder als Fälschungen bezeichnet, macht die Ukraine die russische Armee für die Toten verantwortlich. 

Auch international verurteilen Politiker*innen das Massaker und sind sich einig, wem die Schuld für den Tod dieser Zivilpersonen zuzuschreiben ist: Alles deutet auf Russland hin. Niklas Masuhr, Sicherheitsforscher am Center for Security Studies der ETH Zürich, bestätigt im Gespräch mit blue News, dass eine solche Tat durchaus zum russischen Vorgehen passen würde.

«Handlungen haben System»

Zur Person
zVg

Niklas Masuhr ist Sicherheitsforscher am Center for Security Studies der ETH Zürich.

Kollektive Bestrafungen der Bevölkerung seien ein etabliertes Muster in Russlands Kriegen der letzten Jahrzehnte und darüber hinaus. «Gewalttaten sollen hier den Widerstandswillen der Bevölkerung brechen, indem Exempel statuiert werden», sagt Masuhr. Natürlich wisse man nicht, ob diese Vergehen explizit angeordnet worden seien – und falls ja, von wem. Doch müsse man davon ausgehen, «dass solche Handlungen System haben».

In einer Videobotschaft vom Sonntag verurteilte auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Gräueltaten und teilte seine Befürchtung, dass es nicht die letzten ihrer Art gewesen sein könnten. Noch «schrecklichere Dinge» könnten sich auftun als das, was bisher über die Verbrechen in Butscha bekannt worden sei. In anderen Regionen des Landes, die noch unter russischer Kontrolle stehen, könnten nach deren Abzug «noch mehr Tote und Misshandlungen» offenbar werden.

Selenskyj spricht in Butscha von «Völkermord»

Selenskyj spricht in Butscha von «Völkermord»

Nach der Entdeckung von hunderten getöteten Zivilisten in Butscha nördlich von Kiew hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei einem Besuch der Stadt von «Völkermord» gesprochen.

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Diese Befürchtung teilt Niklas Masuhr. Taten wie jene in Butscha stellten seiner Meinung nach keine isolierten Einzelfälle dar. «Es häufen sich bereits seit Beginn des Kriegs Berichte über russische Vergehen an der Zivilbevölkerung, die zudem am russischen Bombardement aus der Luft und Beschuss durch Artillerie zu leiden hat.» Dazu zählen auch Angriffe auf Spitäler und zivile Einrichtungen.

Doch was bezweckt Russland mit diesem skrupellosen Vorgehen? Man wolle einen «möglichst hohen Abschreckungseffekt» erzielen, erklärt Masuhr. Durch Brutalität solle die Moral der Bevölkerung gebrochen werden, dies sei eine «etablierte Praxis der russischen Streitkräfte», erklärt der Sicherheitsforscher.

Russland zielt auf Abschreckung

Inzwischen mehren sich die Berichte, dass sich die russischen Truppen nicht nur aus Kiew zurückgezogen haben, sondern dass die ukrainische Armee auch andernorts Gebietsgewinne verbuchen konnte, wie zum Beispiel in der Region Sumy im Nordosten. Deutet sich ein Sieg der Ukraine an?

Dies anzunehmen, sei verfrüht, erklärt Masuhr. Der russische Angriff der ersten Wochen sei zwar effektiv abgewehrt worden und Russland habe schwere Verluste zu verzeichnen, doch «der Krieg selbst ist für die Ukraine nicht gewonnen». «Russische Truppen können im Osten potenziell militärische Erfolge verzeichnen und die Zivilbevölkerung wird weiterhin leiden», so der Sicherheitsforscher. «Auch explizit als Resultat weiterer russischer Vergeltungsmassnahmen.»

Der Osten im Fokus

Die russische Konzentration auf die Ostukraine sei nun das primäre Ziel Putins, nachdem die erste Phase des Krieges gescheitert sei. Russland habe inzwischen eine Reduzierung der strategischen Ziele offen zugegeben, von Regimewechsel zu limitierten Gebietssicherungen. Truppen werden in den Osten verschoben, um dort weitere Offensiven gegen die ukrainischen Truppen entlang der Donbass-Front durchzuführen. 

«Hier wird es darum gehen, einen signifikanten Teil der ukrainischen Armee zu zerstören und somit den gesamten Donbass zu sichern», erklärt Masuhr. Für Moskau würde das eine Stärkung der Verhandlungsposition bedeuten. 

Der weitere Kriegsverlauf sei allerdings schwer vorherzusagen. «Aber die Erschöpfung bei Menschen und Material wird auf beiden Seiten recht hoch sein.»